Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)
anstarren musste und jedes Wort von ihm in mich aufsog, als wäre es die Anleitung zum »Singen für jedermann« oder »Wickeln ohne Angst«.
Er erzählte, dass er schon ein Medizin- und ein Jurastudium abgebrochen hatte, bevor er überhaupt seine erste Gesangstunde nahm. Zwischenzeitlich war er noch jahrelang als Journalist im Ausland. Ein vielseitig begabter Mensch also.
Seine unterschiedlichen Tätigkeiten erklärten auch, dass er sich so unkonventionell verhielt.
Er hatte zum Beispiel ein Jahr lang in Bangkok gelebt, wo er mit einer Thailänderin verheiratet gewesen war. Als er sie verließ, ließ sie sich die Haare scheren und ging in ein buddhistisches Kloster.
»War sie denn so gläubig?«, fragte ich erstaunt.
Simon erklärte mir, dass verlassenen Frauen in Thailand eigentlich nichts anderes übrigbleibe, als ins Kloster zu gehen.
Ich schluckte.
Tante Lilli hob schon wieder den Zeigefinger, aber ich wischte ihn gleich vom Tisch. Ich würde niemals ins Kloster gehen, zischte ich sie an, und im Übrigen seien wir hier in einem zivilisierten Land.
Der Mann ist aber nicht zivilisiert, sagte sie warnend.
Das macht ihn ja gerade so aufregend, triumphierte ich.
»Hat denn Ihre Frau keine Versorgungsansprüche geltend gemacht?«, fragte ich neugierig.
»Nein«, sagte er und nahm sich ein Gummibärchen aus der Dose. »Das ist in Thailand nicht üblich.«
»Und warum haben Sie sie … verlassen?«
Kind, sei nicht immer gleich so plump vertraulich!
»Wir haben wahrscheinlich doch nicht zusammengepasst.«
»Ach was«, sagte ich.
Ich versuchte dann, aus ihm rauszukriegen, zu wem er zwischenzeitlich noch nicht gepasst hatte.
Er hüllte sich aber in geheimnisvolles Schweigen. Das machte ihn natürlich noch viel interessanter. Wenn ich da an Klaus dachte! Gleich am ersten Abend hatte er mir sein ganzes Leben erzählt, von seiner Kindheit im Hinterbayerischen bis hin zu seiner gescheiterten Ehe, von seiner Leidenschaft für das Tenorhornblasen bis hin zu seiner Abneigung, in einer geerbten Gemeinschaftspraxis ständig seine Frau umrunden zu müssen. Klaus war von Anfang an ein aufgeschlagenes Buch für mich gewesen, und das ist ja bekanntermaßen langweilig.
Simon Reich hingegen war das sprichwörtliche Buch mit sieben Siegeln. Vom Kammersänger im Frack bis zum Clochard mit Rucksack beherrschte er alle Bühnenrollen, und seine Vergangenheit schien reich gespickt mit spannenden Absonderlichkeiten.
Außerdem fand ich ihn wahnsinnig erotisch. Auch wenn er fremden Servierfräuleins Komplimente bezüglich ihrer Augen machte. Oder gerade deshalb? Klaus wäre nie so ein Stilbruch passiert. Klaus wusste einfach, was sich gehörte, Klaus war aus gutem Hause, Klaus war gediegen und besonnen. Für Klaus hatten Servierfräuleins gar keine Augen, sondern nur volle Teller. Für Klaus hatte nur ich Augen. Und er hatte nur Augen für mich. Öde, was?
Simon Reich hingegen war wie ein Pokerspiel.
Kind, tu’s nicht.
»Und was tun Sie, wenn Sie nicht singen?«, fragte Simon Reich, während er sich die Pfeife stopfte.
Diese Frage hatte ich kommen sehen. Vendramin, was soll ich sagen?
Die Wahrheit, wenn du dich traust!
Natürlich traute ich mich nicht. Mein Schweinehund kläffte wütend, dass ich als Frau unter dreißig nicht gleich jedem unter die Nase reiben müsse, in was für ungeordneten Verhältnissen ich lebte.
Ich sollte auch mal wieder meinen Spaß haben dürfen, oder!?
Deshalb berichtete ich nur vage von meinen Konzerten und überlegte dabei, womit ich mich bei ihm denn interessant machen könnte.
Mir fiel nichts ein. Mein Privatleben war tabu; mit musikalischen Höhepunkten konnte ich auch nicht aufwarten, und meine absonderliche Breisucht würde er vermutlich auch nicht zum Verlieben finden. Obwohl … er hatte ja selbst einen merkwürdigen Bezug zu Genussmitteln!
»Warum eigentlich führen Sie immer Hühnerbrühe mit sich?«
Simon erzählte mir, dass er vor Jahren in Brasilien mal kurz vor dem Hinscheiden war und irgendwelche Missionare ihn durch das Einflößen sehr salzhaltiger Suppe wieder ins Leben zurückholen konnten. Seitdem muss er immer heiße salzige Brühe bei sich haben, denn dieses Panikgefühl von damals lässt ihn nie wieder los.
Kind, der Mann hat’n Knall, sagte Tante Lilli nun schon zum dritten Mal und redete dieselbigen Worte: Nicht diesen, diesen nicht!
Doch der Funke war übergesprungen.
Simon und ich trafen uns nun fast täglich, machten lange Spaziergänge am Rhein oder
Weitere Kostenlose Bücher