Frauen al dente. (German Edition)
Sprechstundenhilfe wartete geduldig, bis Hella ihre Sachen zusammengesucht hatte und ihr in eines der hinteren Zimmer folgte.
»Haben wir schon Ihre Urinprobe?« Als Hella verneinte, wurde ihr ein Plastiktöpfchen mit rotem Deckel in die Hand gedrückt. »Die nächste Tür rechts.«
Gehorsam schloß Hella sich ein. Alleingelassen mit sich und dem roten Töpfchen überkam sie plötzlich ›das Tier‹, die volle Erkenntnis ihrer augenblicklichen Lebenssituation. Ihr Verstand war zu analytisch geprägt, als daß Hella an sogenannte ›Schlüsselerlebnisse‹ glaubte. Doch als sie den Schlüssel der Toilettentür von innen drehte, wurde ihr mit der Umdrehung ihre gesamte augenblickliche Lebenssituation deutlich. Hella Merten, 36 Jahre jung, ledig, beruflich erfolgreich, überzeugter Single, in gesicherten Verhältnissen lebend, die andere durchaus als wohlhabend bezeichnen würden.
Aber emotional tot.
Während sie den Kostümrock hochschob und Strumpfhose und Unterhose runterließ, wiederholte sie es: Tot, tot, tot.
Sie fühlte keine Liebe, keine Wärme, aber plötzlich abgrundtiefe Trauer.
Daran war nur ihre Beziehung zu Paul schuld. Fünfzehn Jahre älter als sie. Liebevoll, zärtlich, doch leider verheiratet. Mehr als sechs Jahre hatte ihr Verhältnis gedauert, in denen sie vergeblich darauf gehofft hatte, daß er sich scheiden lassen würde. Erst ihr Jahr Zusatzausbildung in New York durchschlug schließlich den Gordischen Knoten aus Hoffnungen und Enttäuschungen. Hella lernte dort einen netten, unkomplizierten Amerikaner namens Mike kennen, der sich nach ihrer Heimreise nach Frankfurt einem ebenfalls netten und unkomplizierten Mann namens Herb zuwandte. Und Paul kehrte zu seiner Ehefrau zurück.
Kombiniert mit den traumatischen Liebeserlebnissen, die sie ihrer defizitären Mutterbindung verdankte, hatte ihre Seele bald eine Hornhaut gebildet, gegen die selbst Bimsstein kaum noch etwas ausrichten konnte. Eine Zeitlang hatte sie mit vierzehn sogar geglaubt, lesbisch zu sein, nur weil sie sich bis über beide Ohren in ihre schweizerische Deutschlehrerin verknallt hatte, die ihr mit mütterlicher Zuneigung und Verständnis begegnete. Um sich kurz darauf – sozusagen zu Neutralisierungszwecken – in eine verzweifelte Liaison mit einem pickeligen Achtzehnjährigen zu stürzen. Mit Schaudern erinnerte sie sich noch an die unbedarften Pettingübungen irgendwo im Gestrüpp des Internatsgeländes. Während ihr Freund an ihr herumfummelte, konnte sie kaum den Blick von seinem Eiterpickel zwischen Nase und Oberlippe lösen. Aus Furcht, er könnte aufplatzen und seinen Inhalt in ihr Gesicht entleeren.
Während sie sich bemühte, ihren Urinstrahl exakt in das Plastiktöpfchen zu richten, spürte sie zu ihrem Entsetzen, wie ihr heiße Tränen die Wangen hinunterliefen.
Himmel, sie hatte seit Jahren nicht mehr geheult. Am Ende näherte sie sich den Wechseljahren rascher, als ihr lieb war. Unerklärliche Stimmungsschwankungen waren für diesen Zustand typisch. Aber sie war doch erst sechsunddreißig Jahre alt, andere Frauen bekamen mit fünfundvierzig noch gesunde Babys. Wie auf's Stichwort begannen die Tränen erneut zu laufen. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Plastikbecher auf dem breiteren Rand des Waschbeckens abzustellen, ohne etwas zu verschütten. Hella setzte sich auf die Toilette und verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Eine Entscheidung stand an. Hella haßte Entscheidungen, denn Entscheidungen bedeuteten Veränderungen. Und Veränderungen brachten Unsicherheit. Was wollte sie? Die große Karriere? Das bedeutete zwangsweisen Umzug. Familie, oder gar ein Baby? Bis vor kurzem noch ein unvorstellbarer Gedanke für sie. Doch die Tage ihrer Fruchtbarkeit waren gezählt, und Lisa, das Gemeinschaftsbaby, schaffte es mit Leichtigkeit, unter ihrer Seelenhornhaut verlorene Gefühle freizulegen. Zudem reizte Hella bei Licht betrachtet die Vorstellung, Katharina Merten, die große Operndiva, in ihrer Rolle als Mutter zu übertrumpfen.
Es gab jedoch noch eine dritte Möglichkeit, nämlich vorerst alles beim alten zu belassen. Doch letztlich würde dies nur einen Zeitaufschub bedeuten. Irgendwann würde irgend etwas ihr die Entscheidung abnehmen.
»Geht es Ihnen gut?« Die nette Sprechstundenhilfe klopfte energisch an die verschlossene Toilettentür. Hellas Schluchzen hallte durch sämtliche Praxisräume.
»Komme gleich!« Hastig trocknete Hella sich die Tränen mit dem Handrücken ab und schwappte kaltes Wasser gegen
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