Frauen al dente. (German Edition)
offiziell aussehenden und an sie gerichteten Brief auf dem Klo. Dem sichersten Ort der Welt für eine ruhige Lesestunde.
Der Brief war vom Jugendamt. Eine Dame namens Müller bat bezüglich der Übertragung der Vormundschaftsrechte für das Mündel Lisa Marlen Kunert, geboren am 10. Februar 1997 in Frankfurt, auf Frau Marlen Sommer, wohnhaft in Düsseldorf, um einen Termin zu einem persönlichen Gespräch nach vorheriger telefonischer Absprache.
Als Redakteurin war Marlen allerlei Sprachliches gewöhnt, dennoch las sie den Brief sicherheitshalber ein zweites Mal. Soviel verstand sie: Es wurde ernst. Ob ihr Gegenvormund auch zu dem Gespräch gebeten worden war? Sie beschloß, ihn so bald wie möglich anzurufen.
Doch vorerst verlangten ihre Ausscheidungsorgane nach ihrem Recht. Gewissenhaft setzten sie zu einer gründlichen Entleerung an. Exakt in dem Moment, als Lisa aufwachte und sich lautstark meldete. Jeder Versuch, die Angelegenheit durch heftiges Drücken oder gar drastisches Abkneifen zu verkürzen, scheiterte. Marlen trat der Schweiß auf die Stirn. Dort das Baby, hier der Darm. So ähnlich mußte die Vorstufe zur Hölle aussehen.
»Marlen ist gleich bei dir, mein Schatz! Nur noch ein paar Minuten!« brüllte sie durch die geschlossene Tür zu Lisa hinüber.
Oh Wunder, Lisa verstummte augenblicklich. Doch Marlen entspannte sich nur zögernd, unschlüssig, was die plötzliche Ruhe bedeuten sollte. Friedvolle Einsicht oder bloß Ruhe vor dem nächsten Sturm?
»Beeil dich gefälligst, ich muß in die Bank!« Mit Lisa auf dem Arm hämmerte Hella gegen die Tür. Was bei Lisa umgehende Unterstützungsschreie auslöste.
»Was glaubst du, was ich hier mache?« brüllte Marlen zurück.
»Auf dem Klo Liebesbriefe lesen.« Hella blieb keine Antwort schuldig.
Von wegen. Marlen konnte sich selbst bei intensivstem Nachdenken nicht mehr an ihren letzten Liebesbrief erinnern. Er mußte Lichtjahre zurückliegen, wenn sie überhaupt jemals einen bekommen hatte. One-Night-Stands pflegten im allgemeinen keine Liebesbriefe zu schreiben.
Und selbst ihre Einwegliebhaber waren in letzter Zeit merklich dünner gesät. Das Rauschen der Klospülung riß den Beginn einer ernsthaften Depression mit sich fort.
»Ich muß mit dir reden.« So fangen alle unerquicklichen Gespräche an. Und so fing auch Hellas Gespräch mit Marlen an. Genauer, es hätte angefangen, wenn Marlen sie gelassen hätte. Da sie aber im Augenblick nicht die geringste Lust zu einem ernsten Gespräch unter Frauen verspürte, flüchtete sie sich in Ausreden. Lisa mußte gewickelt, gefüttert, gewaschen werden. Sie selbst nicht minder, bevor sie in die Redaktion überwechselte, um die Brötchen für ihre Mini-Familie zu verdienen. Aber vielleicht heute Abend. Ohnehin ahnte sie, worum es ging. Sicher um Jens. Vielleicht wollte Hella noch einige erprobte Tips von ihr. Wie behandle ich den Ex-Lover meiner Freundin, damit er nicht sofort wieder zur Nächsten überwechselt? Immerhin besaß auch Barbara ihre Reize.
Hella verließ das Haus. Ein unvergeßliches Wochenende lag hinter ihr. Voller Sex, aber auch voller Zärtlichkeit und Zeit zum Nachdenken. Sie war Verstandesfrau genug, um sich nicht kopflos in die Affäre mit Jens Ebert zu stürzen. Sie gab sich keinen Illusionen hin. Sein übergangsloser Wechsel von Marlen zu ihr bestärkte sie eher in dem Verdacht, daß er sie sehr bewußt als Ziel seiner männlichen Zuneigung ausgewählt hatte. Der Ärmste! Wie peinlich es ihm war, als er entdecken mußte, daß er seine Brieftasche zu Hause vergessen hatte. Zum Glück war sie mit ihrer goldenen Kreditkarte jederzeit zahlungsfähig. Sie würde seine ›Vergeßlichkeit‹ im Auge behalten. Aber im Moment störte es sie nicht besonders. Solange Soll und Haben ausgeglichen blieben, war alles okay.
Und eines war ihr an den zwei Tagen überdeutlich geworden. Der Knoten in ihrer Brust diktierte die Bedingungen für ihr weiteres Leben. Einmal angenommen, es war tatsächlich Krebs. Dann bedeutete er nicht nur den Verlust ihrer Brust, sondern ihrer Weiblichkeit. Eine Frau mit nur einer Brust konnte vielleicht noch eine erfolgreiche Bankerin sein, aber mit Sicherheit nicht mehr den Mann fürs Leben gewinnen. Womit auch die Gründung einer eigenen Familie mit einem halben Dutzend Kinder entfiel.
Zwischen Keine-Familie-Gründen-Wollen und Keine-Familie-Gründen-Können lag jedoch ein himmelweiter Unterschied. Zumal frau sich bekanntlich das am meisten wünscht, was sie am
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