Frauen lügen
um zehn auf dem Friedhof der alten Dorfkirche von Wenningstedt.«
Mittwoch, 24 . August, 9.42 Uhr,
Dorfteich Wenningstedt
Obwohl der Himmel über Sylt an diesem Morgen strahlend blau ist, hat sich Fred Hübner warm angezogen. In der vergangenen Nacht hat ein Albtraum den nächsten gejagt, so dass Freds Schlaf zerfasert und unruhig war. Seit dem Aufstehen plagen ihn Schüttelfrostattacken, die auf unangenehme Weise an die schwierigen Phasen seines Alkoholentzugs erinnern. Bisher hat er sich auch noch nicht in das ausgeräumte Schlafzimmer getraut. Stattdessen sitzt er seit dem frühen Morgen mit seinem dicksten Wollpullover über Jeans und Sweatshirt auf einer Bank am Dorfteich, die ihm einen ungehinderten Blick auf den Vorplatz der Wenningstedter Kirche erlaubt. Noch liegt deren behäbiger Backsteinbau mit dem gedrungenen Kirchturm still in der Morgensonne. Nur der Pfarrer ist vor wenigen Minuten eingetroffen und vor einer Stunde der Wagen des Bestattungsunternehmens. Als vier kräftige Männer den Sarg aus hellem Holz, die Leuchter und den Blumenschmuck ins Innere der Friesenkapelle trugen, musste Fred Hübner die Augen schließen. Der Gedanke, dass Susannes Körper im Zustand einer beginnenden Verwesung sich jetzt nur geschätzte fünfzig Meter von ihm entfernt im Altarraum dieser Kirche befindet, ist kaum zu ertragen.
Eine neue Schüttelfrostattacke überfällt Fred und zwingt ihn, den mitgebrachten Schal umzulegen und die Wollhandschuhe überzustreifen. Eine Spaziergängerin in Cordhose und leichter Jacke mustert ihn verwundert, bevor sie in Richtung Kirche weitergeht. Fred kümmert sich nicht darum, sondern richtet seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf den Vorplatz der Friesenkapelle.
Dort treffen gerade die ersten Gäste ein. Die meisten von ihnen kommen in großen Limousinen, deren leise Motoren sanft durch die morgendliche Stille hallen. Das Scheppern einiger weniger Kleinwagen nimmt sich fast unanständig gegen das sonore Summen aus. Den Autos entsteigen vorwiegend Paare, aber auch etliche einzelne Herren, die vermutlich dem Witwer zuliebe an der Feierlichkeit teilnehmen werden. Schnell versammelt sich eine Schar von dunkel gekleideten Figuren, die in ständigem Wechsel immer neue Grüppchen bilden. Man begrüßt sich und plaudert. Sogar gedämpftes Lachen schallt vereinzelt über die Wasserfläche.
Doch plötzlich erstarren die Gruppen und alles dreht sich zur Straße, auf der sich langsam der dunkle BMW Jonas Michelsens nähert. Der Wagen parkt direkt vor der Kirche. Schon setzen sich die ersten Gäste in Bewegung, um den Witwer zu begrüßen. Aus der Ferne betrachtet, wirkt die Prozedur, als sei im Inneren des Wagens ein starker Magnet angebracht, auf den die Körper der Trauergäste unweigerlich zusteuern.
Fred kann den Gesichtsausdruck des aussteigenden Hoteliers nicht erkennen, aber seine Gestalt wirkt wie in Hamburg: straff und durchtrainiert. Sein Gang ist federnd und alles andere als gramgebeugt. Lediglich die Schritte des Mannes sind langsamer und fast verhalten gesetzt. Schnell bildet sich um ihn ein größerer Kreis von Kondolierenden. Die dunklen Anzüge und Kostüme, die sperrigen Blumen und Kränze in den Händen der Wartenden verdecken für Fred bald die Sicht auf Susannes Witwer. Und als ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens aus der Kirche tritt, um den Anwesenden die Kränze abzunehmen, ist die Figur Jonas Michelsens längst in der Masse der dunklen Anzüge untergetaucht und aus der Entfernung nicht mehr von den anderen zu unterscheiden. Erst als Minuten später die Glocken der Kapelle zu läuten beginnen und sich der Zug der Leidtragenden bildet, löst sich der Hotelier von den anderen und setzt sich an die Spitze der Formation. Gemessenen Schrittes begibt sich die Trauergemeinde ins Innere der Kirche.
Fred schlägt die Arme vor dem Oberkörper zusammen und reibt sich Schultern und Brustkorb. Die eisige Kälte hält ihn immer noch umfangen, obwohl die Luft um ihn herum immer wärmer wird. Um nichts in der Welt möchte er sich den weiteren Fortgang der Prozedur vorstellen, und doch kreisen seine Gedanken nur um den Gottesdienst. Einem spontanen Impuls folgend steht Fred auf und nähert sich vorsichtig der Friesenkapelle, deren Vorplatz jetzt menschenleer ist und nur noch von Vogelstimmen widerhallt. Plötzlich durchschneidet ein tiefes Röhren die Stille und übertönt die Vögel. Sekunden später biegt ein heller Porsche älteren Baujahrs um die Ecke, beschleunigt noch auf
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