Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Wintertag, gerade sieben Uhr in der Frühe. Auf einem Bahnsteig der Pariser Gare de Lyon steht eine Frau Mitte dreißig, mit kurzen lockigen Haaren, in einer braunen Samtjacke, hastig eine Zigarette rauchend. Ihr Herz, so wird die Frau, eine gebürtige Amerikanerin, später schreiben, rattert wie die Dampflokomotive, die soeben langsam in den Bahnhof einfährt und die Halle mit ihrem schwefelgelben Rauch erfüllt. Der Expresszug aus Dijon ist pünktlich. Einem der Waggons entsteigt ein Schaffner mit einem Paket in der Hand und blickt sich suchend um. Die Dame rennt auf ihn zu, er übergibt ihr das zweieinhalb Kilogramm schwere Paket, sie wendet sich um und eilt aus der Bahnhofshalle hinaus auf die Straße. Dort hält sie ein Taxi an. »Rue de l’Université 9«, bittet sie den Fahrer, »linkes Ufer, rasch.« Die Dame nutzt die wenigen Minuten Fahrzeit, um das Paket zu öffnen; zum Vorschein kommen zwei druckfrische Bücher. Das strahlende Dunkelblau des Einbands erinnert an die griechische Flagge. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Geschafft.
Am Ziel angelangt, verlässt sie das Taxi, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Der Mann, zu dem sie will, bewohnt in dem kleinen Hotel zusammen mit seiner Familie zwei möblierte Zimmer. Der Portier nickt ihr zu, sie nimmt zwei Stufen auf einmal. Auf ihr Anklopfen hin öffnet der hochgewachsene, hagere, leicht gebeugte Mann augenblicklich. Dann übergibt sie ihm schweigend eines der beiden Bücher. Der Mann trägt eine dickrandige dunkle Brille und über dem linken Auge noch zusätzlich eine große, beinahe schwarze Klappe. Dennoch ist sie sich sicher, das Funkeln in seinen Augen zu bemerken, als sein Blick über das Blau des Einbandes mit den weißen Lettern seines Namens und des Buchtitels gleitet – freudestrahlend und bebend vor Genugtuung. Ohne viele Förmlichkeiten wendet sie sich um, das Paket mit dem verbliebenen zweiten Exemplar unter dem Arm, und steigt nun etwas langsamer die Treppe hinab. Hinter ihr fällt die Tür ins Schloss.
Die Rue de l’Odéon 12, in der Sylvia Beach ihre Buchhandlung und Leihbücherei betreibt, liegt eine gute Viertelstunde zu Fuß von dem Privathotel entfernt, in dem James Joyce seit einiger Zeit lebt. Doch heute nimmt sich die Frau, die ansonsten stets in Eile ist, Zeit. Immer wieder bleibt sie stehen, wickelt das Buch aus dem Papier und beginnt dann darin zu blättern. Zeitweilig schlägt ihr Stolz in Bestürzung um: Mein Gott, die vielen Druckfehler. Doch wen wundert’s eingedenk des Umstands, dass französische Setzer, des Englischen nicht mächtig, den Roman eines Iren von über siebenhundert Seiten Buchstabe für Buchstabe mit der Hand gesetzt haben. Und nicht nur das: Joyce hat die Fahnenabzüge stets wieder mit Korrekturen und vor allem mit Ergänzungen gefüllt. Gut ein Drittel des Buches ist erst in den Fahnen entstanden. Sage und schreibe sechsundzwanzig Setzer sind an der Herstellung des Buches beteiligt gewesen. Die letzten Korrekturen hat Sylvia Beach dem Drucker Maurice Darantière erst vor wenigen Tagen nach Dijon, gut dreihundert Kilometer von Paris entfernt, gebracht. Und dabei das Unmögliche verlangt: Am 2. Februar, pünktlich zu Joyc e ’ vierzigstem Geburtstag, wolle sie dem Autor ein erstes Exemplar des lang ersehnten Buches überreichen. Darantière hat daraufhin die Hände in Verzweiflung hochgeworfen, die für ihn charakteristische Gebärde, und wie üblich keine Zusage gemacht, aber sie wusste, dass dieser Mann das Unmögliche möglich machen würde. Sie sollte recht behalten: Am Vortag kam ein Telegramm mit der Aufforderung, am nächsten Morgen in aller Frühe am Dijon-Express zu sein. Der Schaffner würde zwei Exemplare des Ulysses für sie mitbringen.
In ihrer Buchhandlung angelangt, legt Sylvia Beach ihr Buch sofort ins Schaufenster. Adrienne Monnier, ihre Lebensgefährtin und Ratgeberin, die La Maison des Amis des Livres, das Haus der Bücherfreunde, betreibt, die französische Buchhandlung und Leihbücherei auf der Straßenseite gegenüber, nach deren Vorbild Sylvia Beach ihren eigenen Laden Shakespeare and Company gegründet hat, Adrienne entdeckt den Ulysses als Erste im Schaufenster. Triumph!
Rasch verbreitet sich die Kunde, dass der Roman von Joyce erschienen sei, im gesamten literarischen und an Literatur interessierten Paris, insbesondere unter den englischsprachigen Expatriates, den zumeist aus den USA stammenden Einwanderern, die sich wie Sylvia Beach selbst die kulturelle Kapitale der Zeit
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