Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
sehr genau, wie sie sich Lust verschaffen können. Die amerikanische Frau entpuppte sich bei der Lektüre als ein Wesen, das sehr anders war, als der an ihrer Seite lebende Mann es sich in seinen kühnsten oder schrecklichsten Träumen vorgestellt hatte. Lakonisch resümierte der Kinsey-Report: »Unsere Gesetze und Sitten stehen dem tatsächlichen Verhalten des menschlichen Säugetieres so fern, dass wenige Menschen es sich erlauben können, ihre vollständige Lebensgeschichte dem Gericht oder selbst ihrem Nachbarn oder nächsten Freund bekannt werden zu lassen.«
Zu den wenigen, die sich das erlauben konnten, zählten schon damals die Stars. Stellvertretend für die Mehrheit der Bevölkerung wurden sie von den Medien zur Offenheit in solchen Dingen geradezu genötigt. Und hier kommt Marilyn ins Spiel: Die Monroe der 1950er Jahre war gewissermaßen die Inkarnation der vom Durchschnittsbürger erträumten und zugleich gefürchteten Frau. Ihre Liebesgeschichten und erotischen Eskapaden waren der Öffentlichkeit bekannt; darin kam sie der Vorstellung weiblicher sexueller Emanzipation gefährlich nahe. Wie Kinsey durch seine Statistiken überführte sie durch ihre körperliche Ausstrahlung die Hüter der öffentlichen Moral der Lüge. Dass sie sich dabei durchaus naiv, anschmiegsam und schutzbedürftig gab, verstärkte eher die Gefahr, die von ihr ausging, als dass es sie entschärfte. Denn die Betonung sexueller Freizügigkeit verband sich bei ihr mit einem klaren Drang nach Selbstständigkeit und einer rebellischen Natur. » Marilyn war beides«, resümiert ihr Biograph Donald Spoto: » das brave, angepasste Mädchen, das sich den Männerphantasien unterwarf, aber sie repräsentierte auch die drohende Vorahnung, dass sie sich auf Dauer mit dieser Rolle nicht zufriedengeben und fordern würde, was ihr Spaß mache.«
Nicht irgendeine gut aussehende Frau, sondern genau diese unheimliche Chimäre aus Konformität und Rebellion zeigen die Fotos von Eve Arnold bei der Lektüre des Ulysses . Ihre Aufnahmen laden den Akt des Lesens gleich in zweifacher Weise sexuell auf: durch die Figur der Leserin wie durch das Buch, in dem sie liest. Das war natürlich auch ein köstliches Spiel, das sich die beiden Damen an diesem Sommernachmittag des Jahres 1955 leisteten, unbehelligt von irgendwelchen Agenten, Studioleuten und Marketingexperten. So schlugen sie gleich zwei Kulturen ein Schnippchen: der Kommerzkultur des Studiosystems, das Schauspielerinnen wie die Monroe mit Knebelverträgen an sich band und ihnen ein bestimmtes Image verordnete, zu dem es in ihrem Fall gehörte, möglichst geistlos zu erscheinen. Aber auch der Hochkultur, die seit dreihundert Jahren durch Entsinnlichung auf sich aufmerksam machte. Gerade die professionelle Rezeption des Ulysses ist ein gutes Beispiel dafür, wie die akademische Fixierung auf Sinn und Bedeutung einem Kunstwerk, das wie kaum ein anderes die Sinnes- und Körperlust thematisiert und auch anspricht, alle Wildheit austreibt und es zu einem Popanz für Intellektuelle macht.
Fred W. McDarrah, »Susan Sontag«, 1962, © Fred W. McDarrah/Premium Archive/Getty Images
Sie lese nur, was sie auch wiederlesen möchte, sagte sie; das sei exakt die Definition eines Buches, das es wert sei, überhaupt gelesen zu werden. Das war trotz dieser Beschränkung gar nicht so wenig: Als Sechzigjährige nannte Susan Sontag eine Bibliothek mit über fünfzehntausend Bänden ihr eigen. Susan Sontag ist der exemplarische Fall einer modernen Leserin aus Passion, die sich nicht von der Welt abwendet, sondern diese im Spiegel ihrer Lektüre aufmerksamer und schärfer wahrnimmt.
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New York, 1960
Lesen heißt sich erfinden: Susan Sontag
Im April 1966 fand die neunundzwanzigste Tagung der Gruppe 47 statt. Gruppe 47, das waren die Teilnehmer an den Schriftstellertreffen, zu denen Hans Werner Richter zwischen 1947 und 1967 einlud. Man traf sich an wechselnden Schauplätzen, las sich gegenseitig aus neuen Arbeiten vor und kritisierte einander ad hoc. Zur Gruppe 47 gehörte, wer von Richter eine Einladung erhielt. Das waren auf den insgesamt dreißig Treffen hundertneunzig Autoren, lediglich siebzehn davon Frauen, und eine stetig zunehmende Anzahl von Kritikern und Gästen (hier fiel das Verhältnis Männer zu Frauen für Letztere noch nachteiliger aus, nämlich 105 zu 8!). Nachdem man bereits 1954 am Cape Circeo etwa hundert Kilometer südlich von Rom und 1964 im schwedischen Sigtuna gastiert hatte, war die Tagung in
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