Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Hochkultur des 20. Jahrhunderts, jenes Buch, das viele für die größte Schöpfung unter den modernen Romanen, andere hingegen für schlicht unlesbar halten. Besonders seltsam und komisch an den Fotos ist, dass Marilyn beim Lesen die ganze Zeit Badeanzüge trägt, entweder einen Einteiler mit bunten Streifen, in dem sie ein wenig wie eine College-Schülerin aussieht, oder eine Art Bikini mit schwarz-weißem Rautenmuster, in dem sie schon eher dem geläufigen Bild der Sexbombe entspricht. Vermutlich war die Bademode der Anlass für die Bilder; schließlich sollte eine Story für das Männermagazin Esquire dabei entstehen.
Wird die Zielgruppe Gefallen an den Fotos gefunden haben? Eher nicht, wenn man der schönen Deutung des Bildes folgt, die ihm die britische Schriftstellerin und Feministin Jeanette Winterson gegeben hat: »Das Bild ist so sexy, gerade weil es zeigt, wie Marilyn Monroe Jam e s Joyc e ’ Ulysses liest«, schreibt sie.
Sie muss nicht posieren, wir brauchen nicht einmal ihr Gesicht zu sehen, das Foto strahlt absolute Konzentration aus, und nichts ist mehr sexy als absolute Konzentration. Da ist sie die Göttin, und hat es nicht nötig, ihrem Publikum oder ihrem Mann zu gefallen, sie lebt einfach im Buch. Die Verletzlichkeit ist sichtbar, aber auch etwas, was wir bei der blonden Sexbombe nicht häufig sehen – ein Gefühl, sich selbst anzugehören. Es ist keine Playboy-artige Mischung von Geist und Titten, die dieses Foto so vollkommen macht; vielmehr zeigt es, dass Lesen immer ein privater Akt ist, intim, Liebesgeflüster und Seufzer, ohne Kontrolle und gewöhnlich auch ohne Zuschauer. Wir sind hier die Voyeure, das ist schon richtig, aber was wir hier heimlich beobachten, ist kein Augenblick des Körpers, sondern des Geistes. Ausnahmsweise einmal sind wir nicht aufgefordert, Marilyn zu betrachten, sondern haben die Chance, in sie hineinzuschauen.
Anders gesagt: Mag ihr Äußeres auch noch so sehr zur Welt der Models gehören, im Inneren Marilyns treffen wir auf die »emphatikalistische« Buchliebhaberin Jo Stockton.
Dem scheint kaum etwas hinzuzufügen sein. Es sei denn, die Frage, was wir sehen, wenn wir derart in Marilyn hineinschauen. Die Brücke zu ihren Gedanken bildet dabei natürlich das Buch, in dem sie liest. Sie selbst hat zu Eve Arnold gesagt, die Lektüre sei »eine harte Nuss«, sie könne den Ulysses nur stückchenweise lesen. Aber sie liebe den Sound des Buches und würde es laut lesen, damit es einen Sinn ergibt. Was Marilyn damit meinte, verstehen wir besser, wenn wir uns anschauen, an welcher Stelle sie den Ulysses aufgeschlagen hat. Offensichtlich liest sie die letzten Seiten, den berühmt-berüchtigten Schlussmonolog der Molly Bloom, der Ehefrau des modernen Odysseus Leopold Bloom, dessen Tagesablauf am 6. Mai 1904 der Roman auf rund siebenhundert Seiten beschreibt. Bloom kommt nach Hause – so wie Odysseus am Ende von Homers Epos zu seiner Penelope – und legt sich zu Mollys Füßen ins Bett. Diese erwacht nur halb aus dem Schlaf; aber auch hier sind – wie bei dem großen antiken Vorbild – die während der Abwesenheit des Hausherrn nicht untätigen Konkurrenten um die Gunst der Hausherrin präsent, nämlich in den frei strömenden Gedanken Mollys, die um einen gewaltigen Orgasmus kreisen, den sie am Nachmittag mit ihrem Liebhaber hatte.
Berühmt sind diese letzten fünfzig Seiten des Romans, weil sie lediglich aus acht Sätzen bestehen, die ohne Absatz, Punkt und Komma dahinströmen und den unkontrollierten Gedankenfluss Mollys wiedergeben, die im Halbschlaf den gerade zu Ende gegangenen Tag und in ihn verschlungen auch ihr gesamtes Leben Revue passieren lässt. Wenn Marilyn sagte, dass sie diese Seiten laut lese, damit sie einen Sinn ergäben, war das nicht etwa Ausdruck ihres Unvermögens, vielmehr tat sie das einzig Richtige: So las man tatsächlich, bevor ab dem 10. Jahrhundert in Europa eine Revolutionierung der Schriftkultur allgemeine Verbreitung erfuhr, durch die Satz- und Absatztrennungen, Punkt und Komma sowie andere Gliederungen des Textes eingeführt wurden, die seine Lesbarkeit hervorhoben. Bis dahin waren die Klöster und Kanzleistuben vom Gemurmel der Lesenden erfüllt gewesen, die sich in dem Buchstabengewimmel orientierten, indem sie bei der Lektüre den Text mehr oder weniger laut vor sich hin sprachen. In mancher Hinsicht kehrt das Schlusskapitel des Ulysses zu diesem mittelalterlichen Schriftbild zurück, das sich mehr ans Ohr als ans Auge
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