Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
alternativlos fortsetzt, bis sie die nächste Gabelung passiert. Die Wahl, die schon der Autor der ursprünglichen Geschichte getroffen hat, geschah zumeist auf Kosten einer anderen Möglichkeit oder unter Ausblendung von Alternativen. Was aber wäre, so fragt sich dieser Leser, der auf dem Weg zum Koautor ist, wenn sich der Schöpfer des Originalwerkes für diese andere Möglichkeit entschieden hätte: Wenn etwa Harry Potter an seinem ersten Tag in Hogwarts ins Haus Slytherin statt nach Gryffindor geraten wäre? Wenn Lord Voldemort nicht versucht hätte, Harry als Baby zu töten, sondern ihn adoptiert und als Harry Marvolo aufgezogen hätte? Wer ein literarisches Werk zu Ende führen will, muss sich für bestimmte unter jeweils vielen möglichen Szenarien entscheiden und andere dementsprechend verwerfen. Fanfiction ist auch der Versuch, die Entscheidungen des Autors zu rekonstruieren und gegebenenfalls zu revidieren.
Vieles von dem, was sich Fanfiction-Autoren ausdenken, mag wie müßige Spielerei, gar wie Gewalt anmuten. Die Respektlosigkeit, die in dem Unterfangen steckt, die Position des Lesers zu verlassen und sich die Rolle des Koschöpfers der fiktiven Welt anzumaßen, schließt Übergriffe bis hin zur feindlichen Übernahme ein. Insbesondere die Einpflanzung von Sex und Gewalt in die Welt ihres Werkes sehen viele Autoren mit Grausen. Manche wenden sich deshalb explizit gegen Fanfiction wie die amerikanische Autorin von Vampirromanen Anne Rice, die auf ihrer Website die folgende Nachricht hinterlässt: »Ich gestatte keine Fanfiction. Meine Figuren unterliegen dem Urheberrecht. Es nimmt mich schrecklich mit, nur daran zu denken, was Fanfiction meinen Figuren antun würde. Ich rate meinen Lesern, ihre eigenen Originalgeschichten mit ihren eigenen Figuren zu verfassen.« Der bekannte Fantasy-Autor George R. R. Martin beruft sich sogar darauf, dass seine Figuren seine Kinder seien. »Ich möchte nicht, dass die Leute mit ihnen durchbrennen, nein danke. Selbst solche Leute nicht, die behaupten, sie würde meine Kinder lieben.«
Was ist von solchen Argumenten zu halten? Bei Figuren wie Odysseus, König Lear, Werther oder Anna Karenina hielten wir derartige Skrupel wohl für unangebracht. Der Ulysses von James Joyce, ohne jeden Zweifel große Weltliteratur, erfüllt nicht wenige Kriterien von Fanfiction. Würden wir dem Autor aber allen Ernstes vorwerfen wollen, sich an den Kindern Homers vergriffen zu haben? In vieler Hinsicht sind unsere Vorstellungen von geistigem Eigentum noch von romantischen Vorstellungen der Genieästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt. Aber selbst wenn wir den Vergleich der literarischen Figuren mit den eigenen Kindern ernst nehmen: Kinder gehören zumindest eine Zeitlang zu ihren Eltern, aber gehören sie ihnen deshalb auch? »Nichtfiktive Personen sind nicht unser Eigentum«, sagt eine Autorin von Fanfiction. »Und letzten Endes glaube ich nicht, dass es sich mit fiktiven anders verhält.«
In Wie ein Roman , einem der schönsten Bücher über die Lust zu lesen, hat der französische Lehrer und Schriftsteller Daniel Pennac die zehn unantastbaren Rechte des Lesers formuliert. Sein Anliegen ist es, das wilde Lesen um der Leselust willen gegenüber dem geordneten, literaturbeflissenen, von Lehrplänen gegängelten Lesen zu rehabilitieren. Sein Argument dafür lautet: Jede Leseförderung, die darauf abzielt, das Lesen in guter Absicht und mit guten Gründen zu einer guten Sache zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Um Menschen zum Lesen zu bringen, muss es vielmehr gelingen, die in ihnen schlummernde, lediglich in einen Dornröschenschlaf gefallene anarchische Leselust wieder zum Leben zu erwecken. Am Anfang jeder Leserbiographie steht das wilde Lesen, ohne Plan und ohne Bildungsabsicht. Das war im 18. Jahrhundert so, als junge Frauen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus das Lesen für ihre individuellen Belange entdeckten und alle Romane verschlangen, derer sie habhaft werden konnte. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Hier die ersten neun Rechte des Pennac’schen Dekalogs:
1 Das Recht, nicht zu lesen
2 Das Recht, Seiten zu überspringen
3 Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
4 Das Recht wiederzulesen
5 Das Recht, irgendwas zu lesen
6 Das Recht auf Bovarysmus (die Krankheit, lesen und leben zu verwechseln)
7 Das Recht, überall zu lesen
8 Das Recht herumzuschmökern
9 Das Recht, laut zu lesen
Das zehnte Recht heißt laut Pennac:
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