Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
endgültige Abdankung der Emanzipation im Akt des Lesens, ihre Austreibung aufgrund von Überdruss? Oder steckt doch etwas anderes dahinter?
16
Seattle, 2012
Die Leserin als Grenzgängerin oder Shades of Grey
Anastasia Steele, einundzwanzig Jahre jung, eine amerikanische Literaturstudentin, die ihrem Examen entgegensieht, ist hübsch und – schüchtern. Selbstsicherheit zählt nicht gerade zu ihren Stärken; sie ist so ganz das schwache Geschlecht. Dazu passt, dass sie noch Jungfrau ist, was heutzutage in diesem Alter eher selten vorkommt. Fehlendes Selbstbewusstsein kompensiert sie mit einem Übermaß an Selbstkontrolle, die ihr zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Probleme bereitet ihr in dieser Hinsicht höchstens, ihr widerspenstiges Haar zu bändigen und gegenüber ihrer Freundin Kate nicht allzu viel Hilfsbereitschaft an den Tag zu legen. Am liebsten sitzt sie mit einem klassischen englischen Roman allein in der Universitätsbibliothek. Eine solche Leselust und das Nichtvorhandensein sexueller Erfahrung dürften statistisch gesehen vergleichbar häufig auftreten und in nicht wenigen Fällen sogar miteinander korreliert sein. Galten im 18. und 19. Jahrhundert Romanleserinnen noch als so gefährdet wie gefährlich, hat sich ihr Image inzwischen anscheinend ins Gegenteil verkehrt: Zumindest das Klischee will es, dass an ihnen das Leben, insbesondere das Liebesleben, vorüberzieht wie die Landschaft an einer Schnellzugreisenden. Manchmal fragt sich Anastasia, ob mit ihr etwas nicht stimmt. »Vielleicht verbringe ich zu viel Zeit mit den romantischen Helden in meinen Büchern und stecke meine Erwartungen zu hoch.«
Das ändert sich in dem Moment, als sie bei einem solchen romantischen Helden plötzlich im Chefzimmer sitzt. Christian Grey, CEO von Grey Enterprises Holdings Inc. mit Sitz in Seattle, wo sich auch die Zentrale des Internetbuchhändlers Amazon.com befindet, ist ein Mann wie aus einem Trivialroman entsprungen: Er ist nicht nur attraktiv, sondern »der Inbegriff männlicher Schönheit« – »atemberaubend«. Seine Stimme klingt »warm und verführerisch wie dunkler Schokoladenkaramell«, seine Augen »schimmern wie flüssiges Silber«, sein Blick ist durchdringend und unerschütterlich. Was seine körperlichen Reize betrifft, ist Michelangelos David, wie Anastasia nach und nach feststellt, »ein Dreck gegen ihn«. Grey sieht aber nicht nur gut aus. Keine dreißig, ist er auch schon unermesslich reich und verdankt sein Vermögen nicht etwa einer Erbschaft, sondern der eigenen Tatkraft. Er ist eine Figur wie geschaffen für das Sinus-Milieu der jungen, modernen Performer: beruflich hoch motiviert, effizienz- und leistungsorientiert, weltoffen, risikobereit, flexibel, in Konsumverhalten und Lifestyle avantgardistisch. Und wie Anastasia rasch feststellt, ist er ein »Kontrollfreak« wie sie selbst.
Rührend altmodisch in Zeiten von Speed-Dating und Internet-Flirt fühlen sich beide auf den ersten Blick zueinander hingezogen, und das zudem vollkommen ungeplant. Denn eigentlich sollte gar nicht Miss Steele mit Mr Grey ein Interview für die Studentenzeitung führen, sondern ihre Freundin Kate, welche aber, krankheitsbedingt verhindert, Anastasia gebeten hat, für sie einzuspringen. So führt ihre notorische Hilfsbereitschaft doch noch zu mehr als der fortwährenden Bestätigung, dass sie ein guter Mensch ist. Zugleich sagt uns die Eröffnungsszene des Romans aber auch, dass Anastasia keine Verantwortung trägt für das, was Leser und Leserin angesichts des deutschen Titels Geheimes Verlangen vom Fortgang der Story erwarten dürfen. Die indiskreten Fragen, die sie ihm stellt – »Sind Sie schwul?« – und die sein Interesse an ihr wecken, sind nicht ihre eigenen Fragen, sondern die ihrer Freundin, die sie nur vom Papier abliest. Sie kann nichts dafür, versteckt sich hinter den Worten anderer, wie sie das als passionierte Leserin wohl gewohnt ist, wenn sie, so jedenfalls das Klischee, ein Leben aus zweiter Hand führt.
Das alles sieht nach einer harmlosen Liebesgeschichte aus, einer romantischen Phantasie, die immer noch dem Strickmuster von E. Marlitts Goldelse und vergleichbaren Trivialromanen folgt: Einfache Frau aus prekären Verhältnissen mit schlichtem Gemüt mausert sich aufgrund ihrer Attraktivität, ihres unschuldigen Charmes und ihrer Anstelligkeit zur Geliebten, später zur Ehefrau des Tycoons. Dabei sind es insbesondere die Frische, die Unbeholfenheit und entwaffnende Naivität, die
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