Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
identifikatorischer Absicht, ja, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den dort geschilderten Lebensentwürfen womöglich zu einem Zuwachs an persönlicher Freiheit führt, dieser Gedanke kommt Brentano und vielen anderen Autoren nach ihm nicht. Für Caroline wird er zu einer Selbstverständlichkeit.
Doch wir greifen vor. Gerade erst hat die Professorentochter damit begonnen, die Fesseln einer behüteten Kindheit abzustreifen. Ahnungen davon, welche Möglichkeiten das Leben bietet, erhält Caroline über ihre Lektüren hinaus immer dann, wenn die große Welt in Gestalt von prominenten Besuchern in die Enge der Kleinstadt einbricht. Ende des Jahres 1778 kommt der Weltumsegler Georg Forster nach Göttingen und wird dort von Haus zu Haus weitergereicht. Zweieinhalb Jahre später weilt die Fürstin Amalie von Gallitzin für längere Zeit in Göttingen, um die Universitätsbibliothek und Vorlesungen zu besuchen. Die von ihrem Mann, dem russischen Gesandten Fürst Dimitri Golizyn, getrennt lebende Dreiunddreißigjährige ist mit ihren beiden Kindern im Schlepptau und ihren weitreichenden philosophischen Interessen eine Ausnahmeerscheinung ihrer Zeit. Katholisch erzogen, war sie Hofdame am preußischen Hof, bevor sie durch ihren Mann mit den Köpfen und Ideen der Aufklärung in Paris bekannt wurde. Mit einem bemerkenswerten Blick für das Eigenwillige ihrer Erscheinung beschreibt Caroline Amalie als
eine sehr gelehrte Dame, nach griechischer Art gekleidet, mit kurzen Haaren, flachen Schuhen, selten ohne Diener zu sehen, der ein Halbdutzend großer Foliobände trägt, wenn sie mit einem Gefolge von 6 bis 8 Herren am helllichten Tag in unserer Leine badet etc. Ihre Kinder sind sehr leicht angezogen, der Sohn trägt lange Hosen und ein Hemd statt anderer Kleidung, und die Tochter eine Art Nachthemd, im Rücken von oben bis unten offen, nur oben einmal zugebunden. Beide gehen barfuß, die Haare nicht abgeschnitten, aber abgeschoren. Sie sind schwarz wie die Neger. Die Fürstin ist sehr hübsch und von schönem Teint, obwohl sie ihn viel exponiert. Sie muss sehr viel Geist und Kenntnisse haben. Sie liest Homer im Original, und in Hofgeismar, woher sie gerade kommt, ließ sie sich jeden Morgen ins Bad tragen. Für die Erziehung ihrer Kinder scheint sie die Natur zum Vorbild zu nehmen, ohne sich darum zu kümmern, dass die Natur manchmal ein wenig schmutzig ist.
Allerdings, so Caroline, gefalle die Fürstin Gallitzin »nicht als Frau«, sondern nur als »ausgefallene Erscheinung, als Absonderlichkeit«. Ein solcher Vorbehalt ist beileibe nicht nur Ausdruck einer konventionellen Denkweise; darin steckt auch ein gutes Stück Realismus eines Bürgermädchens. Wie die später in Deutschland auftauchende Ministertochter und geschiedene Diplomatengattin Anne Louise Germaine Necker, Baronin de Staël-Holstein, genannt Madame de Staël, gehört die Fürstin Gallitzin zur kleinen Schar bunter Vögel aus der adligen Oberschicht, die durch Herkunft und Begabung das Privileg besitzen, sich männliche Tugenden zu eigen zu machen und dabei trotzdem ganz Frau zu bleiben. Doch Aristokratinnen wie Madame de Staël und die Fürstin Gallitzin konnten sich die Freiheiten, die sie sich herausnahmen, auch leisten; dazu befähigte sie ihre Herkunft, verbunden mit standesgemäßer Bildung, einem über die Landesgrenzen hinausreichenden Netzwerk an Beziehungen zu den höheren Kreisen und einem steten Geldzufluss aus dem familiären Vermögen. Deshalb aber auch taugten sie für die Mehrzahl der damaligen Frauen nicht zum Vorbild.
Da ist der letzte der hier aufzuführenden prominenten Besucher von anderem Kaliber, selbst wenn Caroline ihn kaum zu Gesicht bekommt: Johann Wolfgang von Goethe. Denn Goethe hat sich vorgenommen, in den zwei Tagen seines Göttinger Aufenthaltes alle Professoren von Rang und Namen zu besuchen; hätte er doch sehr viel lieber hier als in Leipzig studiert. Sehnsüchtig erwartet Caroline, dass der Dichter des vor neun Jahren erschienenen Werthers auch im Michaelishaus vorbeischaut. Natürlich hat sie das Buch längst gelesen, das seither nichts von seiner Faszinationskraft und seiner Explosivität eingebüßt zu haben scheint. Selbst wenn die jugendliche Caroline manche von Goethe gewählte Gegenstände als »sonderbar« empfindet, bewundert sie, dass das Romanhafte bei ihm immer ganz natürlich erscheint, »wenn man sich nur mit ein bisschen Einbildungskraft hineinphantasiert«. Was auch daran liegen mag, dass er »so ganz
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