Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
kann ein guter Roman aber befreien, und zwar gleichermaßen seine Autorinnen und Autoren wie seine Leserinnen und Leser.
Lesen, das hat die Leserin Jane Austen immer wieder selbst erfahren, hat mit Identifikation zu tun. Es gibt kein Lesevergnügen, ohne dass wir uns mit der fiktiven Welt des jeweiligen Buches und seiner Helden identifizieren – und seien diese noch so sehr als Antihelden charakterisiert. Letztlich wollte Jane Austen Romane schaffen, die es uns erlauben, unserer Lust an der Identifikation mit gutem Gewissen und mit Gewinn nachzugehen. Dieser Gewinn besteht darin, dass wir uns selbst besser kennenlernen und die Beweggründe unseres Handelns – etwa Gefühl und Verstand oder Stolz und Vorurteil – hinterfragen. Das gelingt aber so lange nicht, als der Roman uns in Welten entführt, die mit der unseren nichts zu tun haben. In einer ausführlichen Würdigung von Stolz und Vorurteil hat Walter Scott das als einer der Ersten erkannt: »statt der großartigen Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebene und treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um den Leser vorgeht«. Als Scott dies schrieb, hatte er zwei Jahre zuvor mit Waverley oder Es ist sechzig Jahre her seinen ersten historischen Roman veröffentlicht. Während Jane Austen Gesellschaftsromane schrieb, deren Stoff und Figuren der Gegenwart entsprungen sind, beschritt Scott den definitiv entgegengesetzten Weg, indem er historische Stoffe wählte und den Nervenkitzel des Schauerromans mit den Themen des sentimentalen Romans verband, und hatte damit zu Lebzeiten unvergleichlich mehr Erfolg als Jane Austen mit ihren Gegenwartsromanen der Menschenkenntnis.
Auch die Autorin von Stolz und Vorurteil aber wurde mit dem Vorschlag konfrontiert, einen historischen Liebesroman zu schreiben. Der Bibliothekar des Prinzregenten, ein Bewunderer ihrer Romane, versuchte ihr das nahezubringen. Unvergleichlich ihre Antwort. Sie glaube schon, schrieb sie im Frühjahr 1816, gut ein Jahr vor ihrem Tod, dass dies »profitabler und populärer wäre als die häuslichen Szenen auf dem Lande«, mit denen sie sich beschäftige. »Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenig schreiben wie ein Versepos. Nein, ich muss bei meinem Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auch wenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede andere Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlich scheitern.« Das ist ein bewunderungswürdiges, beinahe an Luther erinnerndes Plädoyer in Sachen Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit – aus einer inneren existenziellen Notwendigkeit heraus, aber zum Zwecke der Freiheit von Autorin und Leserin.
William Chevalier, »Frontispiz von Frankenstein von Mary helley«,
Kupferstich nach einer Zeichnung von Theodor von Holst aus Mary Shelley: Frankenstein.
London (Colburn and Bentley), 1831, © British Library/akg-images
Im völlig verregneten Sommer des Jahres 1816 werden in einer Villa am Genfer See zwei literarische Figuren geboren, die die Phantasie von Schriftstellern, Lesern und Filmemachern bis heute beschäftigen: der Vampir und Frankensteins Monster. Hier ist die Geschichte ihrer Schöpfer, Dr. John William Polidori und Mary Shelley, und die Geschichte jenes Sommers.
7
Genfer See, 1816
Ein völlig verregneter Sommer:
Mary Shelley und das Monster
Am 10. April 1815 brach auf der Insel Sumbawa im heutigen Indonesien der Vulkan Tambora aus. Schon einige Tage zuvor waren auf den Nachbarinseln Explosionsgeräusche zu vernehmen gewesen, und später war ein Ascheregen auf Ost-Java niedergegangen. Dieses Mal aber war der Knall so gewaltig, dass er bis ans Ohr des britischen Gouverneurs Thomas Stamford Bingley Raffles drang, der gerade gut zweitausendfünfhundert Kilometer entfernt auf Sumatra weilte. Er glaubte, Artilleriefeuer zu hören, und ordnete Verteidigungsbereitschaft an.
Beobachter des unvergleichlichen Naturschauspiels berichteten von drei Flammensäulen, die über dem Berg emporstiegen und den Tambora in ein Inferno aus »flüssigem Feuer« verwandelten. Wenig später wurden große Brocken Bimsstein aus dem Krater ausgeworfen und gingen in der Umgebung nieder. Pyroklastische Ströme, die an eine ins Tal stürzende schwarze Wolke erinnerten, pulverisierten alles, was ihre Zugbahn kreuzte; Gebäude wurden durch die Luft geschleudert, Dörfer vernichtet. Über zehntausend Menschen fielen dem Ausbruch unmittelbar zum Opfer. Große Teile der Insel verschwanden unter einer fast mannshohen Ascheschicht. Der zuvor bis zu
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