Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Ausschau. Diesen fand sie bald nach der Rückkehr nach London in George Gordon Noel Byron, bekannt als Lord Byron, den die Veröffentlichung seiner Verserzählung Childe Harolds Pilgerfahrt im Frühjahr 1812 über Nacht berühmt gemacht hatte. Eine ganze Generation – die zurzeit der Französischen Revolution Geborenen – erkannte sich in dem bindungslosen, von romantischem Freiheitspathos beseelten, alle Konventionen hinter sich lassenden Weltenwanderer Childe Harold wieder, unverkennbar ein Selbstporträt des Dichters. »Eine völlig Fremde nimmt sich die Freiheit, sich an Sie zu wenden«, schrieb Claire zu Beginn des Frühjahrs 1816 an den Dichter und gestand ihm ihre Liebe »seit vielen Jahren«. Als sie mehrfach ohne Antwort blieb, offenbarte sie ihm, einen Roman zur Hälfte abgeschlossen zu haben, und erbat seinen Rat, ob sie ihr Leben der Literatur widmen oder eine Theaterlaufbahn einschlagen solle. Das war nicht geflunkert, und das dem Schreiben beiliegende Manuskript hatte sie tatsächlich selbst verfasst.
Auf diesen Brief hin stimmte Byron einem Treffen zu. Wie alle Welt wusste, war seine Ehe mit Annabella Milbanke in Auflösung begriffen. In der Folge stellte Claire eine bewundernswerte Kreativität im Ausdenken perfekter Arrangements unter Beweis, um den Lord heimlich zu treffen. Der kam auf den Geschmack und dachte nicht weiter über die Affäre nach. Schließlich war es beschlossene Sache, dass er Ende April 1816 auf den Kontinent reisen würde. »In Genf sehen wir uns wieder«, schrieb ihm Claire hinterher, stolz darauf, nun auch einen Dichter erobert zu haben wie ihre ältere Stiefschwester. Byron hielt das für Phantastereien einer verliebten Frau ohne viel Realitätssinn.
Doch als Lord Byron zusammen mit einem Dr. John William Polidori, den er extra für die Reise als Leibarzt engagiert hat, und seiner Dienerschaft am 25. Mai in Genf eintrifft und standesgemäß im Hôtel d’Angleterre in Sécheron absteigt, muss er feststellen, dass er bereits erwartet wird. Claire hatte weder Mary noch Shelley lange überreden müssen, von ihrem ursprünglichen Plan, den Sommer in Schottland zu verbringen, Abstand zu nehmen und dieses Mal sie zu begleiten, so wie sie das selbst zwei Jahre zuvor bei ihrer Flucht getan hat. Mary hatte in London bereits das Vergnügen einer Begegnung mit Byron gehabt und war unverzüglich seinem Charme erlegen. Shelley hingegen brannte seit längerem darauf, den Dichter von Childe Harolds Pilgerfahrt kennenzulernen. Obwohl eine Woche später als Byron in London aufgebrochen, sind Claire, Mary, Shelley und der kleine William bereits am 13. Mai hier angelangt; ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechend haben sie die billigsten Zimmer in dem luxuriösen Hotel genommen. Von der unverhofften Wiederbegegnung anfangs peinlich berührt, macht Lord Byron rasch das für ihn Beste daraus: Er engagiert Claire als Kopistin, die seine Notizen zum dritten Gesang seiner berühmten Verserzählung ins Reine schreibt, und setzt die sexuelle Beziehung mit ihr fort.
Schon bald kehrt man dem noblen und teuren Hôtel d’Angleterre den Rücken. Mary und Shelley finden für sich, Claire, Willimäuschen und die Kinderfrau ein kleines Cottage, unmittelbar am See gelegen, mit einer eigenen Anlegestelle, was den Segler Shelley begeistert. Und auch Lord Byron bezieht zusammen mit Dr. Polidori und der Dienerschaft eine Woche später ein standesgemäßes Anwesen, die Villa Diodati, von der Shelley’schen Bleibe nur zehn Fußminuten auf einem malerischen Pfad durch die Weinberge entfernt. Es entspinnt sich ein reger Austausch, der zuweilen von neugierigen Landsleuten vom anderen Seeufer aus mit dem Fernrohr beobachtet wird. Nach einem sehr späten Frühstück pflegt Byron im Landhaus der jungen Familie vorbeizuschauen. Ist das Wetter einmal einigermaßen trocken, unternimmt man in unterschiedlichen Konstellationen Bootsausflüge. Die Abende verbringt man meistens in Byrons Villa, auch wegen des wärmenden offenen Kamins, der dort von der emsigen Dienerschaft befeuert wird.
F. Finden, »Villa Diodati«, Stahlstich nach einem Gemälde von W. Purser von 1816; 1833,
© The Granger Collection/ullstein bild
Die Villa Diodati, Schauplatz des berühmten Wettbewerbs im Schreiben von Gespenstergeschichten zwischen Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, Mary Godwin und William Polidori, hier auf einem Stich nach einem Gemälde aus dem Jahr 1816.
In den Aufzeichnungen, die wir über diese legendären Abende besitzen,
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