Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
dem Tee dann begibt er sich an seine eigene Erzählung. Doch um Mitternacht wird es richtiggehend geisterhaft. Da keine weitere Geschichte fertig geworden ist, rezitiert Byron einige Strophen aus Samuel Taylor Coleridges gespenstischer Verserzählung Christabel, darunter jene, in der die schöne Fremde, die sich als eine Hexe entpuppt, ihre Brust entblößt: »Hässlich und missgestalt und bleichgetönt – ein Traumschreckbild, mit Worten nicht beschreiblich.« Danach tritt einen Moment lang Schweigen ein; nur das Plätschern des Regens ist zu hören. Plötzlich stößt Shelley einen Schrei aus, greift sich an den Kopf und stürzt mit einer Kerze aus dem Zimmer. Polidori erinnert sich daran, hier eigentlich als Arzt engagiert zu sein, spritzt ihm Wasser ins Gesicht und verabreicht ihm zur Stärkung Ätherweingeist, die berühmten Hoffmannstropfen. Wie Shelley anschließend berichtet, hatte er Mary angesehen, »und dabei war ihm eine Frau in den Sinn gekommen, von der er gehört hatte, anstelle der Brustwarzen habe sie Augen, und dieses Bild hatte sich seiner bemächtigt und ihn mit Entsetzen erfüllt«. Polidori schildert die Szene in seinem Tagebuch und versucht, Shelleys auffälliges Verhalten mit Ereignissen in seinem Leben in Verbindung zu bringen. Wie man seinen Ausraster auch erklären mag – womöglich spielt der ihm zugeschriebene Konsum der Opiumtinktur Laudanum dabei eine Rolle –, es bleibt Shelleys einziger bemerkenswerter Beitrag zu dem kleinen Gespensterwettbewerb unter Freunden. Er macht sich zwar Notizen zu einem Gedicht, das bleibt aber ebenso Fragment wie Byrons Vampirgeschichte.
Nun, da die beiden professionellen Dichter an dem mit Aplomb angekündigten Vorhaben scheitern oder doch rasch aufgeben, ist die Bühne frei für die Schreiber der zweiten Reihe: den Doktor und Mary. Polidori kommt zuerst die Geschichte einer Dame in den Sinn, die als Strafe dafür, durch ein Schlüsselloch spioniert zu haben, einen Totenschädel verpasst bekommt. Doch dann weiß er nicht mehr weiter. »Armer Polidori«, meint Mary, und die anderen schütteln den Kopf angesichts derartiger Unbeholfenheit. Drei Jahre später jedoch erscheint, zunächst anonym in einer Zeitschrift und kurz darauf auch als Buch, eine Erzählung, die denselben Titel trägt wie Byrons in der Villa Diodati vorgetragenes Fragment: Der Vampyr . Eine der eigentlichen Geschichte voranstehende Einleitung legt die Vermutung nahe, dass Byron der Verfasser ist; unter dieser Voraussetzung entwickelt sich das Büchlein rasch zu einem Bestseller, der in England die Vampir-Mode auslöst und noch das erklärte Vorbild für Abraham »Bram« Stokers berühmten Dracula aus dem Jahr 1897 sein wird. Die Geschichte selbst geht so:
Der verträumte junge Aubrey macht die Bekanntschaft des bleichen, geheimnisvollen Lord Ruthven, der die Damenwelt für sich einzunehmen versteht. Aubrey begleitet ihn auf den Kontinent, stößt sich aber an seinem Lebenswandel, weshalb sie ihre Reise bald getrennt fortsetzen. Die schöne Ianthe, die Aubrey in Griechenland kennenlernt und in die er sich verliebt, erzählt ihm von Vampiren, deren Aufenthaltsort ein berüchtigter Wald sei. Als Aubrey den besagten Wald trotz aller Warnungen nach Einbruch der Dunkelheit durchquert, bricht ein Gewitter los. Aus einer Hütte vernimmt er die Schreckensschreie einer Frau; mit dem unterdrückten Hohngelächter eines Mannes vermischen sie sich zu einer Symphonie des Grauens. Er tritt hinein, entdeckt die von einem Vampir ausgesaugte, tote Ianthe und fällt in einen Fieberwahn. Erst Tage später kommt er zu Bewusstsein und macht zu seinem Entsetzen die Entdeckung, dass es Lord Ruthven ist, der ihn pflegt. Die Zugewandtheit, die der Lord an den Tag legt, lässt ihn allerdings wieder Zutrauen zu ihm fassen. Sie setzen die Reise gemeinsam fort, werden aber von Räubern überfallen, die dem Lord eine tödliche Schusswunde zufügen. Bevor Ruthven stirbt, nimmt er seinem Begleiter den Schwur ab, binnen eines Jahres und eines Tages keiner Menschenseele seinen Tod kundzutun – wir kennen das schon: Am nächsten Morgen ist die Leiche verschwunden. Nach London zurückgekehrt, erlebt Aubrey, wie seine gerade achtzehnjährige Schwester in die Gesellschaft eingeführt wird. Als er sich auf dem Empfang einmal umdreht, glaubt auch er ein Gespenst zu sehen: Er starrt ins Gesicht von Lord Ruthven – auferstanden von den Toten. Aubrey reagiert auf diesen Anblick mit einer Psychose, die eine monatelange
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