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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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Theorie übte ungeheuren Einfluss auf die Schriftsteller und Philosophen der Zeit aus. Polidori hat seine Doktorarbeit über Somnambulismus geschrieben; er war mit den Gedanken Mesmers bestens vertraut. Leben, das ist für viele Wissenschaftler dieser Zeit eine beinahe unmerkliche, bewegliche, unsichtbare Substanz, die zu den sichtbaren Strukturen und Formen der Materie hinzutritt. Man kann sie womöglich einem Körper zuführen oder aus ihm heraussaugen, wie der Vampir es tut, um sich ein weiteres Stück Lebenszeit zu verschaffen.
    In dieser Nacht kann Mary nicht schlafen. Denken will sie das, was ihr widerfährt, aber auch nicht nennen. Sie liegt im Bett und hat einen Wachtraum – einen jener Geisteszustände, deren Aufklärung Polidoris medizinische Forschungen galten:
    Ich sah den bleichen Schüler unheiliger Künste neben dem Ding knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das grässliche Phantom eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit einer mächtigen elektrischen Maschine hin, gab es plötzlich Lebenszeichen von sich.
    Einmal angenommen, die Experimente, Leben zu erschaffen, gelängen wider alle Erwartungen letztlich doch. Wie würde es dem Forscher ergehen, der einen Menschen zum Leben erweckt, ein »Ding«, das er etwa zuvor aus Leichenteilen zusammengeflickt hat? Von Polidori hat Mary erfahren können, dass an den Universitäten Grabräuberei – oder Resurrektion, wie man das hochtrabend nannte – der geläufige Weg ist, um an die begehrten Leichen für die Anatomiestunden heranzukommen. Würde dieser Schöpfer eines neuen Menschen aus Leichenteilen triumphieren und jenen Ruhm erwerben, auf den er es abgesehen hatte? Nein, träumt Mary weiter: »Sein Erfolg würde dem Künstler Angst einjagen; er würde voll Grauen vor dem abscheulichen Werk fliehen.« In Erfüllung gegangen, würde sich der Traum von der Unsterblichkeit als schlimmstmöglicher Albtraum erweisen. Sollte der Schöpfer je wieder Schlaf finden können, dann nur in dem Vertrauen darauf, dass das »Ding«, dem er die Lebenskraft zugeführt hat, wieder zu toter Materie zerfallen würde. Aber was, wenn sein Optimismus ihn trügt? »Er öffnet die Augen und sieht das grässliche Ding an der Seite seines Bettes stehen und ihn mit gelben, wässrigen, doch forschenden Augen anstarren.«
    Vor Schreck öffnet auch Mary die Augen. Die Idee hat dermaßen von ihr Besitz ergriffen, dass sie es nicht vermag, das »grässliche Phantom« abzuschütteln. Um sich abzulenken, denkt sie an die Gespenstergeschichte, die ihr immer noch nicht eingefallen ist. Und auf einmal erlebt sie, was am Beginn vieler aufregender Entdeckungen steht: die assoziative Verbindung von zwei Dingen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. »Heureka! Was mich erschreckte, wird andere erschrecken; und ich muss lediglich den Geist beschreiben, der mein mitternächtliches Ruhekissen heimgesucht hat.« Am nächsten Morgen kündigt sie den anderen an, sie habe sich eine Geschichte ausgedacht. Und noch am selben Tag schreibt sie die ersten Worte ihres Romans Frankenstein oder Der moderne Prometheus nieder, Sätze, mit denen später dessen fünftes Kapitel beginnen wird:
    In einer trüben Novembernacht erblickte ich den Erfolg meiner Mühen. Mit einer Erregung, die ans Unerträgliche grenzte, legte ich mir die lebenspendenden Instrumente zurecht, um der reglosen Masse zu meinen Füßen den Lebensfunken einzuhauchen. Es war bereits ein Uhr morgens; der Regen trommelte eintönig gegen die Scheiben, und meine Kerze war nahezu heruntergebrannt, als ich im Schimmer des verlöschenden Lichts sah, wie sich das glanzlose Auge meines Geschöpfs öffnete; es atmete schwer, und sein Körper wurde von krampfartigen Zuckungen geschüttelt.
    Wie soll ich meine Empfindungen beim Anblick dieser Katastrophe beschreiben …

    Samuel John Stump, »Unknown woman, formerly known as Mary Wollstonecraft Shelley«, 1831,
© National Portrait Gallery, London
    Das Porträt dieser jungen Schriftstellerin könnte Mary Shelley zeigen – das nahm man jedenfalls lange Zeit an. Heute sagt die Forschung, es handele sich um eine unbekannte Frau. Aber trifft das auf Mary Shelley nicht genauso zu?
    »Im Schimmer des verlöschenden Lichts« – das ist der Zeitpunkt, zu dem die Vampire erwachen und die aus Leichenteilen zusammengenähten »künstlichen« Menschen zum Leben finden. Lord Ruthven und Frankensteins Kreatur sind Seelenverwandte wie auch ihre Schöpfer, der ständig

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