Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
ihnen, natürlich heimlich, Romane zusteckt, an denen der Staub der alten Leihbibliotheken haftet und die sie in ihrer Schürzentasche hinter die Klostermauern schmuggelt.
Da gab’s nur Liebschaften, Liebhaber, Liebhaberinnen, verfolgte Damen, die in einsamen Lusthäuschen ohnmächtig, Kutscher, die auf allen Poststationen ermordet, Pferde, die auf jeder Seite zuschanden geritten wurden, Waldesdunkel, Herzensqual, Schwüre, Schluchzer, Tränen und Küsse, Nachen im Mondenschein, Nachtigallen im Gehölz, Herren so tapfer wie Löwen, so sanft wie Lämmer, so tugendhaft wie keiner ist, stets wohlgekleidet und deren Zähren fließen wie aus Krügen.
Noch vor dem Eintritt in die Klosterschule hat Emma Paul und Virginie gelesen, den im Jahrhundert zuvor erschienenen kurzen Roman des Rousseau-Jüngers Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre. Dem zeitgenössischen Leser Flauberts stand schon bei Nennung des Titels die herzzerreißende Geschichte vor Augen: Auf der Insel Mauritius, die seinerzeit unter französischer Herrschaft » Î le de France« genannt wurde, wachsen die Kinder Paul und Virginie wie Geschwister in einer kleinen, friedlichen Gemeinschaft heran. Doch eines Tages trifft ein Brief der Erbtante ein und mit ihm das Angebot, die mittlerweile fünfzehnjährige Virginie in Frankreich standesgemäß zu erziehen. Insbesondere Paul ist über den Fortgang Virginies untröstlich. Als diese zwei Jahre später auf die Insel zurückkehren möchte, weil sie sich an das europäische Leben nicht gewöhnen konnte, gerät das Schiff kurz vor der Küste in Seenot.
Vom Ufer aus müssen Paul und ihre Angehörigen beobachten, wie Virginie ertrinkt, weil es ihr das in Frankreich anerzogene Schamgefühl verbietet, die Kleider abzulegen und ans Ufer zu schwimmen. Virginie ist eine Nachfahrin der Heldinnen Richardsons, eine Verkörperung von Empfindsamkeit und natürlicher Herzensbildung. Der Roman zeigt, wie diese durch die Gesellschaft zerstört werden. Die kleine Emma hält sich bei ihrer Lektüre an das Idyll: das Bambushäuschen, den treu ergebenen Sklaven Domingue, den Hund Fidèle; vor allem aber träumt sie »von der süßen Freundschaft eines liebevollen kleinen Bruders, der einem Beeren holt von großen Bäumen, höher als Kirchtürme«.
Wenn dann im klösterlichen Internat sonntags Stellen aus François-René de Chateaubriands Geist des Christentums oder Schönheiten der christlichen Religion vorgelesen werden, ist ihr durch die Lektüre von Paul und Virginie der Grundton dieses antiaufklärerischen Buches, das »klangvolle Lamento romantischer Melancholie«, bereits vertraut. Chateaubriands Werk war die Bibel der französischen Romantik. Der durch Aufklärung, Industrialisierung und den heraufziehenden Kapitalismus zunehmend entzauberten Welt rückte Chateaubriand mit der Poesie von Leidenschaft und Weltschmerz, Ruinen und Gräbern, Exotismus und Lebensüberdruss zu Leibe. Die junge Emma nippt an diesem metaphysischen Zaubertrank in kleinen Schlucken. Auf dem Land aufgewachsen, sind es nicht »die lyrischen Exzesse der Natur«, die ihr Herz erreichen. »Sie musste aus den Dingen eine Art von persönlichem Gewinn ziehen können«, charakterisiert der Erzähler ihr Interesse an Literatur und Kunst, an Schönheit im Allgemeinen; »und sie verwarf als unnütz alles, was nicht den unmittelbarsten Bedürfnissen ihres Herzens diente, – denn sie war eher sentimental als künstlerisch veranlagt und suchte Gefühle, nicht Landschaften«.
Das wird so bleiben, was immer sie später liest, obwohl ihre Lektüre sich keineswegs auf Trivial- oder Frauenromane beschränkt. Emma liest die Historienromane von Walter Scott und Die Geheimnisse von Paris von Eugène Sue, einen in den 1840er Jahren ungeheuer erfolgreichen Zeitschriftenroman. Sie liest aber ebenso die feministischen Romane der George Sand oder die Liebesromane von Honoré de Balzac, dessen Die Frau von dreißig Jahren zu den literarischen Erweckungserlebnissen Flauberts zählte. Beiläufig wird erwähnt, dass die in ihrem Eheleben mit dem Landarzt Charles Bovary gelangweilte Frau häufig zu einem Buch just in dem Moment greift, wenn sie sich gerade im Spiegel betrachtet hat; nach kurzer Lektüre dann lässt sie es, »zwischen den Zeilen vor sich hin träumend«, in ihren Schoß fallen. Lesen ist für sie das Gegenteil dessen, was Flaubert Mademoiselle de Chantepie empfiehlt, um ihren Selbstekel und Neurotizismus zu kurieren – nicht Gewinn von Weltläufigkeit, sondern
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