Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Lebensersatz. Es ist der Versuch, das Ungenügen am eigenen Ich durch die Träumerei von einem besseren Leben zu kompensieren, das einem eigentlich gemäß wäre. Verschlingt sie einen der historischen Romane Walter Scotts, so entsteht in ihr der Wunsch, ein Leben wie jene Burgherrinnen mit den langen Korsagen geführt zu haben, »die ihre Tage unter dem Dreipass der Spitzbogenfenster verbrachten« und dabei Ausschau hielten, »ob aus weiter Ferne ein Reiter mit weißer Feder auf schwarzem Ross herangaloppierte«. Lässt sie sich von Eugène Sue die Geheimnisse der Pariser Unterwelt enthüllen, dann letztlich, um dort »die Beschreibung von Wohnungseinrichtungen« zu studieren. Und wenn sie Balzac und George Sand liest, so sucht sie »imaginäre Befriedigung für ihre eigenen Gelüste«.
Zu Recht ist von Emmas Manie gesprochen worden, alles Gelesene unmittelbar auf sich selbst zu beziehen. Lektüre ist für sie kein Weg, der Egozentrik zu entkommen, vielmehr dient sie ihr dazu, das eigene Leben, das sie als langweilig und öde empfindet, mit phantastischen Vorstellungen auszustaffieren. Fatalerweise scheint diese Flucht in die Fiktion lediglich das Gefühl der Leere und Niedergeschlagenheit zu verstärken, von dem sie ausgelöst wurde und das sie nur für die Dauer des Konsums vergessen machen kann. Mit jedem Buch, das zeigt, wie schön und wild, wie bedeutend und aufregend das Leben eigentlich sein könnte, nimmt der Eindruck zu, sich im falschen Film zu befinden, wie man heute sagt. Schließlich legt Emma die Bücher weg. »Ich habe alles gelesen«, sagt sie sich.
Flaubert hat sich nicht darauf beschränkt, das Leseverhalten seiner Heldin ausführlich zu schildern, er hat es darüber hinaus – wie noch kein Romancier vor ihm – zum Bestandteil eines umfassenderen Konsum- und Medienverhaltens gemacht. Da spielen in der Pubertät nicht nur Bücher eine Rolle, sondern auch die Bilderwelten von Kupferstichen und Poesiealben, die Figuren berühmter und leidgeprüfter historischer Frauengestalten, die umschwärmt werden wie heute Film- und Popstars, schließlich musikalische Romanzen, die die »verlockenden Gaukeleien der Liebesdinge« erahnen lassen und die Popsongs von einst waren. Später, als schon verheiratete Frau, abonniert Emma Frauenmagazine und verschlingt »Berichte über Premieren, Pferderennen und Abendgesellschaften«, interessiert sich »für das Debüt einer Sängerin, die Eröffnung eines Geschäfts«. Und das alles, wohlgemerkt, während sie, die zeitlebens nie nach Paris kommen wird, in der Provinz lebt und an allen diesen Herrlichkeiten nur aus zweiter Hand teilhaben kann. Wollte man Emma Bovary in unsere Zeit versetzen, so würde sie als Mädchen statt Paul und Virginie vielleicht Michael Endes Unendliche Geschichte gelesen haben, statt Jeanne d’Arc, Héloïse und Agnès Sorel fände sie Alma Mahler-Werfel, Romy Schneider, Lady Di und Madonna zum Niederknien, beim Friseur würde sie stets zur Gala greifen, zurzeit würde sie Der Lavendelgarten , den neuen Bestseller von Lucinda Riley, verschlingen, und sie hätte natürlich weder die Twilight -Tetralogie von Stephenie Meyer noch Shades of Grey ausgelassen.
Was aber, so mögen wir uns fragen, lässt sich aus solchem Leseverhalten ableiten? Dass die Betreffende extremen Stimmungsschwankungen unterworfen ist? Dass sie wie Emma Bovary eine unglückliche Ehe führt und ihr Kind ablehnt? Ihren langweiligen Mann mit zwei Liebhabern betrügt? Sich wegen manischer Kauflust bis über beide Ohren verschuldet hat und suizidgefährdet ist? Das alles wohl kaum, und doch ist genau das Emmas Schicksal.
In Flauberts Roman fällt der Schwiegermutter die Rolle zu, die depressiven Verstimmungen und andere Verhaltensauffälligkeiten Emmas auf ihre Lektüre schlechter und noch dazu antireligiöser Romane zurückzuführen. Schwiegermama und Ehemann beschließen gemeinsam, »Emma am Romanlesen zu hindern. Das war nicht leicht, aber Mutter Bovary übernahm diese Aufgabe: Wenn sie durch Rouen kam, wollte sie persönlich zum Inhaber der Leihbibliothek gehen und erklären, dass Emma ihre Abonnements kündige. Hätte man nicht sogar das Recht, die Polizei zu Hilfe zu rufen, wenn der Buchhändler trotzdem seine Giftmischerei fortsetzte?« Die Neigung von Emmas Umgebung, ihre Unzufriedenheit mit dem Leben auf die Lektüre gefährlicher Bücher zurückzuführen, das ist, wie Flaubert unmissverständlich deutlich macht, Schwiegermutterpsychologie. Das sollte auch all jenen
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