Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Bettlaken und sorgt so für permanenten Nachschub für die anscheinend unersättliche weibliche Leselust.
Antoine Wiertz, »Die Romanleserin«, 1853, © akg-images
Antoine Wiertz, »Die Romanleserin«, 1853.
Beide Bilder verknüpfen das Lesen der Frauen mit ihrer Sexualität, das von Egg sogar explizit mit dem Ehebruch. Das wirft auch auf Emmas Lese- und Medienverhalten ein anderes Licht. Die Bibliotherapie, wie sie Flaubert dem alten Fräulein in Angers empfiehlt, kann kaum Emmas Sache sein, die die Literatur »wegen der prickelnden Leidenschaften« liebt. Es geht in Flauberts Roman weder um richtige oder falsche Bücher noch um richtige oder falsche Lektüre.
Emmas Leselust ist weniger Lust zu lesen als Lesen um der Lust willen, die es verschafft. Die Feministin Cora Kaplan, eine inzwischen emeritierte Englischprofessorin an der Universität von London, hat dafür den Begriff des sexuellen Lesens geprägt. »Das Lesen, liebe Leserin, ist eine sexuelle Tätigkeit.« Mit diesen Worten leitet sie einen Ende der 1980er Jahre veröffentlichen Aufsatz über »Lesen, Phantasie, Weiblichkeit« ein. Entdeckt habe sie das während der Pubertät, als sie etwas kennenlernte, was vergangene Jahrhunderte als Lesesucht oder Lesewut beschrieben und kritisierten:
Narrative Freuden verloren ihre Unschuld; Erwachsenenbücher mit ihren packenden Szenarien von Verführung und Treuebruch hielten mich in Bann. Ich las mit klopfendem Herzen und umherwandernden Händen und reduzierte Achtbares wie Populäres auf einen elementaren Bestand von Handlungsabläufen. Madame Bovary, Jane Eyre, Bleak House, Nana: Als Teenager waren sie für mich alle gleich … Ich allein wusste, dass ich sie um des sentimentalen und sexuellen Rausches willen verschlang.
Gegenstand sexuellen Lesens sind keineswegs nur pornographische Bücher oder solche mit entsprechenden Stellen. Letztlich eignet sich jeder Liebesroman für diese Leseweise; vor ihr fallen die ohnehin durchlässigen Barrieren zwischen Hochliteratur, Unterhaltungsliteratur und Trivialliteratur. Wenn Emma Bovary zu Balzac greift, ist das genauso sexuelles Lesen, wie wenn die junge Cora Kaplan Madame Bovary verschlingt. Sexuelles Lesen ist gewiss nicht die einzige Art des Lesens, aber etwas davon dürfte bei jeder Romanlektüre mitschwingen.
Sexuelles Lesen ist an kein bestimmtes Lebensalter gebunden, selbst wenn es in der Adoleszenz verstärkt auftritt. Während der heranwachsende Mann im 18. und 19. Jahrhundert in dieser Phase längst die Schwelle zum Berufsleben überschritten hatte (und zur schönen Literatur aus Zeit- und Imagegründen nur selten griff), war es das Schicksal der jungen Frau aus dem Bürgertum, auf den »Richtigen« zu warten. Die leere Zeit füllte sie mit Romanlektüre. Alles, was sie bis zur Eheschließung über Liebe und Sex wusste, entnahm sie in der Regel den Büchern, die sie las. Das betraf keineswegs nur die Frage, wie man es konkret macht – darüber war in den gerade noch zumutbaren Büchern leider wenig zu erfahren. Es betraf die viel wichtigere Frage, was man dabei fühlt und wie man mit den sich einstellenden Gefühlen umgeht.
Als er Mitte zwanzig war, las Gustave Flaubert Balzacs 1845 erschienenen, aus einer Vielzahl von Geschichten zusammengewürfelten Roman Die Frau von dreißig Jahren – kein großes Kunstwerk, aber ein Verkaufsschlager wegen seines vielversprechenden Titels. Dennoch reagierte er mit überschwänglicher Begeisterung. Balzac, so meinte er, habe mit diesem Roman »im Universum der Liebe einen neuen Kontinent« entdeckt und »Tausende von Menschen, die davon ausgeschlossen waren, zu seiner Erschließung« aufgefordert. »Die Zeit zu verlängern, die einem Geschlecht bleibt, ist das nicht fast die Erfindung eines neuen?« Indem er die Reize der nicht mehr jungen, dafür sexuell erfahrenen Frau geschildert hatte, deren Leidenschaft durch ihre Angst vor dem Verlust der Schönheit noch gesteigert wird, hatte Balzacs Roman mit dem Klischee aufgeräumt, eine Frau sei mit dreißig zu alt, um als Liebende noch infrage zu kommen. Flauberts Begeisterung darüber war ein Stück weit Enthusiasmus in eigener Sache; schließlich hatte er mit Louise Colet gerade eine elf Jahre Ältere, also eine Frau in den Dreißigern, zur Geliebten genommen, deren sexueller Appetit ihm Eindruck machte und gehörig zusetzte. Aber er feierte in Balzacs Entdeckung auch die Tat eines großen Psychologen und Künstlers, die Vorbildcharakter für die eigenen literarischen
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