Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Regel wenig zielführend, aber Flauberts Roman macht plausibel, dass das weniger mit einer Charakterschwäche seiner Heldin zu tun hat als mit dem Umstand, dass die Gesellschaft dieser Zeit für eine Frau, die ein selbstbestimmtes, ihren Träumen und Leidenschaften entsprechendes Leben führen wollte, über keine Rollenmodelle verfügte. Es gab nur die Alternative zwischen einem Leben als Mann, der die Freiheit hatte, alle Leidenschaften auszukosten, die Welt zu bereisen, Hindernisse zu überwinden und selbst das fernste Glück zu erobern, und einem Leben als Frau, der all diese Privilegien versagt blieben und die sich stets als gebunden erfuhr: »Bewegungslos und unbeweglich zugleich steht sie zwischen den Verführungen der Sinnlichkeit und dem Zwang der guten Sitten«, wie Emma Bovary sinniert. Und weil diese Alternative dem oder der Einzelnen keine Wahl lässt, da man entweder als Mann oder als Frau zur Welt kommt und eine Frau, die »ihren Mann steht«, gemäß den »Sitten der Provinz« etwas Undenkbares ist, deshalb wünscht sich Emma Bovary einen Sohn: »Der Gedanke, ein männliches Wesen zum Kind zu haben, erschien ihr wie eine künftige Rache für alle Unzulänglichkeiten des vergangenen Lebens.« (Doch sie bekommt zu ihrer großen Enttäuschung ein Mädchen.) Und aus dem gleichen Grund gibt die Aussicht auf ein Reitkostüm den Ausschlag für Emmas erste Affäre: Ihr Mann spendiert es ihr, um sie dazu zu bringen, ihre Zögerlichkeit abzulegen und Rodolphes Vorschlag, gemeinsam auszureiten, anzunehmen. Dieses Reitkostüm ist eine sogenannte Amazone , wie sie etwa Gustave Courbet 1856 gemalt hat mit der Exgeliebten Flauberts als Modell: Es macht aus einer Frau für die Dauer ihres Ausritts oder Ausgangs einen Mann.
So verkleidet, hatte sich auch eine gewisse Amandine Aurore Lucile Dupin de Francueil in den 1830er Jahren Zugang zu Pariser Gesellschaften verschafft, in denen Frauen ungern gesehen waren oder gar nicht eingelassen wurden. Als Schriftstellerin nannte sich besagte Aurore Dupin dann George Sand – Sand nach Jules Sandeau, ihrem studentischen Liebhaber, den sie sich nahm, nachdem sie sich von ihrem Mann, dem Baron Dudevant, getrennt hatte; und George, weil es ganz unverkennbar ein Männervorname war. Noch Emma Bovary wird den ersehnten Sohn so nennen wollen.
Flaubert hat mit Madame Bovary einen Roman geschaffen, der sich in keiner Weise mehr für eine gefühlsselige, rein identifikatorische Art der Lektüre eignet, wie sie seine Heldin noch betreibt, die sich in vieler Hinsicht gegenüber der Gegenwart, in der sie lebt, anachronistisch verhält: Sie liest nicht nur angestaubte Romane, sondern hängt auch Gefühlswelten an, über die die soziale Entwicklung hinweggegangen ist. Anders dagegen Flauberts Art zu schreiben: Konsequent verweigert er seinen Leserinnen und Lesern all das, was Emma in den Büchern sucht und fatalerweise auch findet. Stärker als an das Einfühlungsvermögen wendet sich Flaubert an die Urteilskraft seiner Leser. Dem entspricht, dass er über das Psychologische hinausgeht und auch soziologisch argumentiert: Seine Figuren verfügen nicht nur über Körper, Herz und Seele, sondern sind auch eingebettet in gesellschaftliche Strukturen, zu denen sie sich in irgendeiner Weise verhalten müssen. Nicht zufällig war der Ausgangspunkt für Madame Bovary eine wahre Begebenheit aus dem bürgerlichen Leben: der Selbstmord einer Delphine Delamare, die einer Zeitungsnotiz zufolge mit einem Landarzt verheiratet war, aus Langeweile die Ehe brach, sich verschuldete und 1848 vergiftete.
Letztlich zeigt Flaubert, dass wir alle in der Gesellschaft bestimmte Rollen spielen, mit denen wir verwachsen sind und die sich nur begrenzt modifizieren lassen. Wie stark uns diese Begrenzung einengt, ist dann genau die Frage, die nach einer Antwort verlangt, die über das bloß Private hinausgeht. Um dies alles zu erfassen, muss der Leser des Romans wesentlich mehr leisten als noch der Leser etwa von Pamela oder Werther ; er wird dafür aber nicht nur durch einen Hinzugewinn an Sensibilität, sondern auch an analytischer Schärfe etwa zur Beurteilung der gesellschaftlichen Situation und des eigenen Rollenverhaltens entschädigt. Hätte Emma Bovary in ihrer Jugend statt Paul und Virginie von Bernardin de Saint-Pierre Madame Bovary. Sitten in der Provinz von Gustave Flaubert gelesen, wäre ihr das Schicksal der zum Selbstmord getriebenen Ehebrecherin womöglich erspart geblieben. Vermutlich hätte sie ihren
Weitere Kostenlose Bücher