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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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Verdienste, die der vom Leben benachteiligten jungen Frau schließlich die Erhebung über alle anderen ermöglichen, die ihr das Leben schwer gemacht haben. Die Heirat ist dann in der Regel nicht mehr als die Sanktionierung dieses Aufstiegs. Natürlich passte die Pamela-Strategie besser zu dem von der Gartenlaube vertretenen Familienkonzept als das Clarissa-Modell der Verführung. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Indem Marlitt dieses Muster in immer neuen Geschichten variierte, schuf sie für ihre Leserinnen Rollenmodelle für ein gelingendes Leben. Heute würde man vermutlich von Empowerment sprechen – von belletristisch-therapeutischen Maßnahmen, um bei den Betroffenen das Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit zu überwinden und sie dazu zu ermuntern, ihre Gestaltungsspielräume und Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. Selbst wenn sie ihnen letztlich Märchen erzählte, nahm E. Marlitt ihre Leserinnen ernst – in ihren Lebensnöten und Herzenswünschen, in ihrer Bildungsbeflissenheit und Sentimentalität, in ihrem Ehrgeiz und ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit, in ihrem Streben nach Unabhängigkeit und ihrem Verlangen nach Glück, kurz in ihrer Widersprüchlichkeit. Ihre Frauenfiguren sind »problematische Naturen«, wie der Titel von Spielhagens Roman lautet, der ihr, als sie noch Vorleserin in fürstlichen Diensten war, eine ganze Welt eröffnet hatte. Man könnte sogar sagen, E. Marlitt sei die Erste gewesen, die die problematische Natur der modernen Frau entdeckt habe. Aber damit würde man ihr, die einfach nur populäre Frauenromane schreiben und damit ihr Leben bestreiten wollte, vermutlich doch zu viel Ambition unterstellen. Ihre Bücher sind soziale Romane, nicht im Dienste irgendeiner Moral, sondern des Lebens: Sie entwerfen konkrete Lebenschancen für ganz reale Leserinnen.

    John Lavery, »Girl in a red dress reading by a swimming pool«, 1887,
© Christie’s Images/The Bridgeman Art Library
    Das 19. Jahrhundert eilt seinem Ende zu. Es erscheinen zunehmend Romane, die prüfen, wie es um die Lebenschancen von Frauen bestellt ist. Mit einer Ausnahme sind alle Heldinnen Leserinnen, mal mehr, mal weniger leidenschaftlich, aber stets mit Folgen: für ihr Denken, für ihr Fühlen, für ihre Selbstständigkeit. Und die eine Nicht-Leserin beklagt das Versäumnis, dessen Opfer sie wurde: Wer nicht liest, den bestraft das Leben.

10
New Orleans, 1899
    Das Erwachen der Leserin
    »Warum hast du mir nicht gesagt, dass von Männern Gefahr droht? Warum hast du mich nicht gewarnt? Damen wissen, wovor man sich hüten muss, weil sie Romane lesen, die ihnen solche Listen zeigen; aber ich hatte niemals die Möglichkeit, auf diese Weise etwas zu lernen, und du hast mir nicht geholfen!«
    Die sechzehnjährige Tess, die diese Sätze vorwurfsvoll an ihre Mutter richtet, ist keine Dame, sondern ein Mädchen vom Land, die Tochter eines Häuslers. Sie ist schwanger; Alec d’Urberville, ein vermeintlicher Verwandter von ihr, hat sie brutal verführt. Tess hat als Kind einige Jahre die Schule besucht, aber auf Geheiß ihrer Eltern keine Romane gelesen. Sie klagt die Mutter an, ihr durch diese Maßnahme die notwendige Aufklärung vorenthalten zu haben, um gegenüber Männern zu bestehen, die in unschuldigen Frauen vor allem Freiwild sehen. Wäre sie durch Romanlektüre darüber informiert gewesen, was ihr durch Männer wie Alec d’Urberville drohen könnte, wäre es zu der Vergewaltigung mit den Folgen einer Schwangerschaft nicht gekommen. Dieser Vorwurf wiegt umso schwerer, als es ihre Mutter war, die die Tochter aus sozialem Ehrgeiz heraus zu den neureichen d’Urbervilles geschickt hat, in der Hoffnung, sie würde den Sohnemann heiraten. Und der ist es nun, der die Unwissende schändlich erniedrigt hat.
    Nach dem katastrophalen Erlebnis mit dem skrupellosen Alec macht Tess eine zweite Liebeserfahrung. Der Pastorensohn mit dem sprechenden Namen Angel Clare (leuchtender Engel) verliebt sich in die mittlerweile neunzehnjährige Tess, die ihr Kind verloren und eine Stelle als Melkerin auf einem Bauernhof gefunden hat. Hier, in einer menschenfreundlichen, fruchtbaren Natur und in der liebevollen Obhut Angel Clares, findet Tess zeitweise ihre frühere Unbekümmertheit wieder. Clare weiß nichts von ihrer Vorgeschichte: Er erblickt in ihr eine Verkörperung weiblicher Unschuld und Naivität und will sie sich zu einer angemessenen Partnerin heranbilden, die zu seinen ehrgeizigen Plänen passt. Tess wird immer wieder von

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