Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Skrupeln geplagt; trotzdem beichtet sie ihm ihre Vergangenheit erst, als die beiden schon getraut sind und kurz vor ihrer Hochzeitsnacht stehen. Abrupt wendet Angel sich daraufhin von seiner Frau ab, die Ehe bleibt unvollzogen. Es ist das bekannte Paradox: Die falschen Vorstellungen, die sich Angel von Tess gemacht hat, kann er ihr nicht verzeihen. Und es ist die unrühmliche Kehrseite der Idealisierung: Wird diese enttäuscht, schlägt sie jäh in Verachtung um – Thomas Hardy hat diesen Mechanismus in seinem 1891 erschienenen Roman Tess von den d’Urbervilles sehr plastisch herausgearbeitet.
Mit dem einen Mann hatte Tess Sex, ohne schon einen Begriff davon zu haben, was das eigentlich ist, Liebe. Mit dem anderen kann sie sich alles vorstellen – Liebe, Sex, ein gemeinsames Leben, aber er ist ein »Sklave der Konvention«. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Angel Clare geht nach Brasilien, und Alec taucht wieder auf. Er weiß von der Verarmung ihrer Familie seit dem Tod des Vaters und zwingt ihr seine »Liebe« auf: Geld, sprich Unterhalt der Mutter und der Geschwister, im Tausch gegen Sex. Als Angel Clare eines Tages desillusioniert, krank, verarmt und voller Reue aus Brasilien zurückkehrt, ersticht Tess Alec in einem Akt der Selbstbefreiung und zieht mit Angel von Versteck zu Versteck, um dem Arm des Gesetzes zu entkommen. Jetzt finden die beiden zueinander, sexuell und seelisch, jenseits der Konventionen, nachdem sie durch den Mord alle Brücken hinter sich abgebrochen haben und eine Rückkehr in ein bürgerliches Leben unmöglich geworden ist.
Im Grunde ihres Herzens ist ihr eine Feindseligkeit geblieben, die sich zu kalter Verachtung verhärtet, und das seit dem ersten Tag ihrer Verlobung. Mit kaum sechzehn Jahren hat man sie von der Schule genommen und ihr Rocco Pentagora als Verlobten vorgestellt. Jahre später erinnert sich Marta an die undeutliche Beklemmung, die sie seinerzeit empfunden hat und die erstickt worden ist von den klugen Überlegungen der Eltern: ein junger Mann aus wohlhabendem Haus … Doch jetzt ist diese Beklemmung wieder da und steigert sich zu Empörung und Wut, als Rocco sie verjagt, obwohl sie schwanger und das Kind zweifellos von ihm ist, nur weil er die von ihr schlecht versteckte Verehrerpost von dem Rechtsanwalt Alvignani gefunden hat und gleich etwas von Hörnern faselt, die sie ihm aufgesetzt habe.
Ins Elternhaus zurückgekehrt, erleidet Marta eine Fehlgeburt. Der Vater, der sie blindlings verurteilt, schließt sich zu Hause ein, stirbt an der Aufregung und stürzt die Familie dadurch ins Elend. Selbstgerecht stellt die kleinstädtische Gesellschaft die junge Frau an den Pranger. Um sich von den Hirngespinsten zu befreien, in denen ihre Gedanken und Gefühle unterzugehen drohen, versucht Marta schließlich, ihre Studien wiederaufzunehmen oder wenigstens zu lesen. Sie öffnet die alten, beiseitegelegten Bücher und wird von einer unsagbaren Zärtlichkeit erfasst. Erinnerungen leben auf, und es ist, als ob ihr Herz wieder zu schlagen beginne. Sie erinnert sich an das Lob, das von den Lehrern kam, das aber auch Alvignani gespendet hat, als sie ihm auf seine Briefe antwortete. Sie hatte mit ihm über die Lage der Frau in der Gesellschaft diskutiert. Sie könnte womöglich in Rom sein, als Frau Gregorio Alvignanis, in einer anderen, großzügigen und vom Licht des Geistes erleuchteten Atmosphäre, wenn man sie hier nicht angekettet hätte.
Sie beugt sich über ihre Bücher, beseelt von ihrem früheren Eifer. Während ihre Mutter und ihre Schwester früh zu Bett gehen, um Licht zu sparen, lässt sie es bis Mitternacht, sogar bis zwei Uhr morgens brennen. Der Vater tot, die Familie ruiniert – ihre Umgebung fragt sich, woher sie diese Sorglosigkeit nimmt, in aller Seelenruhe lesen zu können. Eines Abends teilt Marta es ihnen endlich mit: Sie hat sich auf die Examina vorbereitet, die am nächsten Morgen in der Lehrerakademie beginnen. Sie besteht die Prüfungen als Beste; als sie aber eine Stelle an der örtlichen Schule antritt, erhebt sich Elternprotest gegen die »unmoralische Lehrerin«. Nur mithilfe Alvignanis, der inzwischen Professor und Abgeordneter in Rom ist, gelingt es, ihre Versetzung nach Palermo zu erreichen. Nun ist die Tochter die Ernährerin der Familie, die ihre alten Gewohnheiten wieder aufnimmt. Marta hingegen ist und bleibt »die Ausgestoßene«, so auch der Titel des ersten Romans von Luigi Pirandello, 1893 vollendet, aber erst im neuen Jahrhundert
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