Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
als sie mehr wegen einer fixen Idee als einer Verfehlung zur Ausgestoßenen wird – nicht nur in den Augen ihres Mannes, sondern auch ihrer Familie und der kleinstädtischen Gesellschaft. Ihr aus eigener Kraft und aufgrund ihrer Liebe zu den Büchern geglückter Aufstieg zur Lehrerin verschafft nicht nur ihr selbst eine neue Ausgangsposition, sondern sichert auch der Familie das Überleben, die zuvor der Devise gefolgt war: »Wir halten an unseren Vorurteilen und Prinzipien fest, und bedeute es auch unseren Untergang.« Marta ist allerdings keine »reine Frau«, allein schon deshalb nicht, weil sie das Bedürfnis nach Rache kennt. Dass sie sich auf den Briefwechsel mit Alvignani einlässt, ist nicht nur Eitelkeit angesichts der Bewunderung und Verehrung, die er ihr entgegenbringt, sondern auch Folge der Feindseligkeit, die sie gegenüber ihrem Mann und ihren Eltern empfindet, die ihr existenzielles Bedürfnis nach Bildung missachtet haben.
Ein Denken, das dazu taugt, sich als Außenseiterin in einer feindseligen Umgebung zu behaupten, lernt Marta nicht nur aus Büchern, sondern vor allem von ihrem Mentor und Liebhaber Alvignani. Geschult in psychologischer Analyse, erläutert er ihr etwa die Entstehung des Gewissens aus der Internalisierung der Meinungen anderer:
Oh, mein Liebling, wenn ich sage: »Das Gewissen erlaubt es mir nicht«, dann heißt das: »Die anderen in mir erlauben es mir nicht, die Welt erlaubt es mir nicht.« Mein Gewissen! Was glaubst du, was dieses Gewissen ist? Es sind die Leute in mir, mein Liebes. Es wiederholt mir das, was die anderen ihm sagen.
Es sind jedoch nicht nur die Gedanken, es sind auch die starken, rebellischen Gefühle, die Marta das Überleben ermöglichen. Immer wieder ist von ihrer Empörung und Wut, ihrem Hass und ihrer Verachtung, ihrer Willensstärke und Leidenschaft die Rede. Als Reaktion auf ihre Verstoßung entwickelt sie eine nervöse Energie, die nur darauf wartet, »gegen jedes neue Hindernis anzukämpfen, das sie zu überwältigen droht«.
Das Schlussbild von Pirandellos Debütroman zeigt uns ein Ehepaar, das angesichts des Todes mehr oder weniger unfreiwillig wieder zueinanderfindet, nachdem die Ehe schon zerrüttet schien und Marta ihre Rettung bereits in der Vorstellung gesucht hatte, Suizid zu begehen. Es ist mehr ein Open als ein Happy End: Kann Rocco die bittere Wahrheit von Martas nachträglichem Seitensprung akzeptieren, den sie ihm gestanden hat? Und was passiert erst, wenn sich ihr Eindruck bestätigt, erneut schwanger zu sein, dieses Mal von ihrem Liebhaber Alvignani? Wird der Ehemann sie dann zum zweiten Mal verjagen? Oder greift sie zu der Finte, das Kind als seines auszugeben? Und wie ist es um Martas Berufstätigkeit als Lehrerin bestellt? Ist er bereit, ihr diese Freiheit zuzugestehen? Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Eines aber hat Pirandello unmissverständlich klargemacht: Die Emanzipation der Frauen hat nur dann eine Aussicht auf Verwirklichung, wenn sich auch die Männer ändern.
»Es war ganz merkwürdig, wie schwer es fiel, die Frauen in ihrer rein menschlichen Mannigfaltigkeit aufzufassen und nicht immer nur von der Geschlechtsnatur aus, nicht immer nur halb schematisch. Sei es, dass man sie idealisierte oder satanisierte, immer vereinfachte man sie durch eine vereinzelte Rückbeziehung auf den Mann. Vielleicht stammte vieles von der sogenannten Sphinxhaftigkeit des Weibes daher, dass seine volle, seine dem Mann um nichts nachstehende Menschlichkeit sich mit dieser gewaltsamen Vereinfachung nicht deckte.«
Das sind Gedanken Max Werners, aus dessen Perspektive Fenitschka erzählt ist. Auch wenn sie von der Autorin einem Mann zugesprochen werden, formulieren sie eine feministische Perspektive, die ihresgleichen sucht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Indem sie einen Mann zum Erzähler ihrer Geschichte von einer Frau machte, verschaffte sich Lou Andreas-Salomé die Möglichkeit, das Frauenbild der Männer ihrer Zeit zugleich darzustellen und zu kritisieren.
Lou Andreas-Salomé, 1861 in Sankt Petersburg geboren, wuchs dort in einer wohlhabenden deutschstämmigen Familie auf. Im Alter von neunzehn Jahren begann sie ein Studium in Zürich, von ihrer Mutter dorthin begleitet. Die Universität Zürich war damals eine der wenigen Universitäten, die auch Frauen zum Studium zuließen. Zwar hatte Louise von Salomé keinen Schulabschluss, aber ihr Charme und ihre Lernbegierde müssen den Theologieprofessor Alois Emanuel Biedermann
Weitere Kostenlose Bücher