Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Recht der Frauen auf Sinnlichkeit und Leidenschaft, und zwar nach ihrer Fasson, die von der der Männer grundverschieden sein kann. Das Erwachen zum eigenen Selbst ist ein erotischer, an die körperliche Liebesfähigkeit gebundener Vorgang. Dem widerspricht keineswegs, dass Kate Chopin es durchaus auch als einen geistigen Prozess versteht; als Edna ihr neues, eigenes Zuhause bezieht, hat sie das Gefühl, »auf der gesellschaftlichen Ebene ein Stück abgestiegen zu sein, gleichzeitig jedoch auf der geistigen eine weitere Stufe erklommen zu haben«. Gerade diese existenzielle Untrennbarkeit von Körper und Geist, von Sinnlichkeit und Denken verleiht Ednas Erwachen seinen Zauber und seine Folgenschwere. Einmal vollzogen, lässt es sich schlichtweg nicht mehr rückgängig machen.
Kate Chopin aber hat diese Betonung des Sexus um den Erfolg ihres Romans bei der zeitgenössischen Kritik und den Lesern gebracht, der sich ansonsten mit großer Sicherheit eingestellt hätte. Als im April 1899 Das Erwachen publiziert wurde, hatte sie schon weit über vierzig Kurzgeschichten in renommierten Zeitschriften und zwei erfolgreiche Bände mit Erzählungen veröffentlicht. Die literarische Laufbahn hatte sie erst nach der Geburt von sechs Kindern und dem frühen Tod ihres Mannes eingeschlagen – ein Karrieremuster, das wir in vielen Biographien von Schriftstellerinnen und Künstlerinnen des 19. Jahrhunderts wiederfinden. Nun aber liefen Kritiker, Büchereien und auch Leser Sturm. Dass es sich um ein »schädliches, ungesundes Buch« handele, das »widerliche Einblicke in das Sexualleben« gewähre, ja, »Sexliteratur« sei, lautete die beinahe einhellige Meinung. Auf diese Weise geriet Chopins Roman noch zu Lebzeiten der Autorin in Vergessenheit, aus der ihn erst eine französische Übersetzung wieder erweckte, die Anfang der 1950er Jahre erschien. Noch einmal ein Jahrzehnt später kam es dann auch in den USA zu einer Neuauflage. Doch erst mit der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970er Jahren und der in ihrem Gefolge aufkommenden feministischen Literaturkritik begann der Siegeszug von Das Erwachen .
Grandios das Schlussbild des Romans: Edna nackt und ganz allein am Strand, vor sich die unendliche Weite des Meeres. Außerhalb der Saison und ohne ihr Kommen anzukündigen, ist sie an den Ort ihres Erwachens zurückgekehrt. Sie fühlt sich wie ein neu geborenes Geschöpf. Dieses Mal wird sie hinausschwimmen, ohne die Grenze des Todes zu respektieren und ohne die Anstrengungen aufzubieten, die für eine Rückkehr ans Ufer notwendig sind. Dieser Suizid hat nichts von der Gewalttätigkeit, mit der sich ein Werther aus dem Leben hinausschießt oder eine Emma Bovary ihren Körper mit Arsen zerstört. »Die Berührung der See ist sinnlich, wenn sie den Körper in sanfter, inniger Umarmung umschließt.« Und doch ist dieser Tod der Heldin auch ein Zeichen tiefer Ratlosigkeit. Ihren Platz im Leben und in der Gesellschaft muss die zu einem neuen Selbst erwachte Leserin erst noch finden.
TEIL 3
Bücherfrauen Das 20. Jahrhundert
Lady Ottoline Morrell, »Virginia Woolf«, 1926,
© National Portrait Gallery, London
1910, so Virginia Woolf, veränderte sich der Charakter des Menschen. Das neue Jahrhundert hatte Lesen und Schreiben gelernt und kam nun langsam in die Pubertät. Bald machten sich erste Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar: Junge Menschen zogen vom Londoner Nobel stadtteil Kensington ins heruntergekommene Bloomsbury, ein homosexueller Schriftsteller entdeckte Samen auf dem weißen Kleid einer jungen Malerin, alle posierten halb nackt als Südseeschönheiten, und ein junges Ehepaar legte sich eine handbetriebene Druckerpresse zu, auf der die beiden nachmittags Avantgardeliteratur in Kleinstauflagen herstellten. Und insbesondere die Frauen lasen, bis sie schwarz wurden.
11
Bloomsbury, 1910
Als der Mensch sich veränderte:
Virginia Woolf
Am Nachmittag des 23. März 1917 betreten die Schriftstellerin Virginia und der Publizist Leonard Woolf, seit annähernd fünf Jahren ein Ehepaar, einen kleinen Laden mit Druckereibedarf. Schon lange liebäugeln sie mit der Anschaffung einer Druckmaschine und dem Erlernen des Druckereihandwerks. Doch mussten sie feststellen, dass »der gesellschaftliche Apparat es verbietet, zwei mittelalten Mittelschichtsangehörigen die Kunst des Druckens beizubringen«. So allgemein und empört drückt es jedenfalls Leonard Woolf aus, wenn er in seinen Erinnerungen Mein Leben mit Virginia von ihren Plänen
Weitere Kostenlose Bücher