Frauenbataillon
sie bei jedem Schuß!« sagte Lida Iljanowna hart. »Denken wir an alle unsere toten Genossinnen!«
Sibirzew nickte stumm. Lida wurde ihm von Tag zu Tag unheimlicher. Sie war ein Roboter geworden, ein schießender Moloch. 291 Treffer standen jetzt in ihrem Buch, und es waren nur die direkten Schüsse gezählt. Wie viele sie mit ihrem leichten MG getroffen hatte, wenn die Deutschen angriffen, war nicht zu ermitteln.
Mit Kapitän Wartanjan, die ihre Geliebte Rusalka zum Feldwebel gemacht hatte und Sibirzew, den einzigen Mann in der Abteilung, so mißachtete, daß sie an ihm vorbeisprach, wenn er ihr im Weg stand, war kein Auskommen mehr. Sibirzew kam sich überflüssig vor, zumal die politischen Lehrstunden, die er abhalten mußte, von der Wartanjan sabotiert wurden. Sie setzte zur gleichen Zeit etwas anderes an, etwa einen Gewehrappell, und das war immer wichtiger.
Sibirzew entzog sich ihr ohne seinen Willen. Das Schicksal verpaßte ihm eine deutsche Kugel. Mit einem Magendurchschuß trug man ihn weg, ein paar Mädchen weinten sogar, aber die Wartanjan sagte grob:
»Er wird nicht daran sterben! Ein Bauchschuß! Um Sibirzew gründlich zu treffen, muß man tiefer zielen. Aber es ist zu befürchten, daß dort die Kugel abprallt.«
Sibirzew kam in ein Feldlazarett, man entfernte die Kugel, nähte das Loch im Magen zu und transportierte ihn weiter. Er war ein so zäher Bursche, daß er schon vier Tage nach der Operation einer Schwester in der Wäschekammer auflauerte, ihr den Rock über den Kopf zog, sie an die Wand drückte und dann sein sibirisches Lied zu singen begann: »Es sprang das Füchslein auf die Fähe …«
Das sprach sich natürlich herum, einige Schwestern balgten sich sogar um dieses Füchslein. Was blieb anderes übrig, als Sibirzew wieder auf Reisen zu schicken?
Das alles erfuhr man in Charkow durch das Radio, durch Tagesbefehle, die ausgehängt wurden, durch Erzählungen zurückkommender Soldaten und durch die ausgebluteten Männer aus den pausenlos eintreffenden Lazarettzügen. Der Vormarsch ging weiter, Charkow wurde zur größten Lazarettstadt des Südens. Man spielte auch wieder Theater, ein Sinfonieorchester gab ein Konzert, überall sangen Soldatenchöre, aber, im Gegensatz zur deutschen Etappe, wo Fressen und Huren zur bevorzugten Freizeitgestaltung gehört hatten, die Stadt blieb unter den Sowjets militärische Kommandostelle, Drehpunkt der großen Offensive.
Hesslich, von allen wegen seiner Leiden geachtet, lud die Verwundeten aus und trug sie in die Wagen, die zu den Lazaretten fuhren. Kräftig war er, das sah man, und alle bedauerten tief, daß seine Kopfwunden noch nicht geheilt waren. Wenn man ihn ansprach, konnte er nur nicken. Jedem griff der Anblick ans Herz, man umarmte ihn, schenkte ihm Schokolade, die man in einem deutschen Verpflegungslager gefunden hatte und die doch tatsächlich – gab es noch Wunder? – in einem Waggon bis nach Charkow gekommen war.
An einem Abend, als Hesslich wieder einen Verwundetentransport auslud, blieb er verblüfft vor einem sowjetischen Offizier stehen. Es war ein Oberleutnant, beide Beine waren ihm von einer Granate abgerissen, er hatte den Transport überlebt, aber nun, das sah jeder, gab es keine Rettung mehr. Es hatte keinen Sinn, ihn noch umzuladen; wie man es bei so vielen hielt, stellte man auch seine Trage zur Seite, hinein in die Reihe der anderen, die auch auf dem Bahnsteig sterben würden.
Das aber war es nicht, was Hesslich stutzen ließ. Der Mann, den er da wegtrug zum Sterben, konnte, dem Gesicht nach zu urteilen, sein Bruder sein. Die gleiche Kopfform, die gleiche Haarfarbe, die fast identische Kinnpartie – auch die Nase glich der seinen, nur der Mund schien etwas breiter zu sein, aber er war vom Schmerz verzerrt.
Hesslich wartete, bis der andere Träger zum Lazarettzug zurückgelaufen war. Er bückte sich über den Sterbenden, tastete seinen Uniformrock ab, fand in der linken Innentasche die Identitätskarte und erschrak, weil er beim Anblick des Fotos sich selbst zu sehen glaubte. Dann erst las er den Namen, und wieder war er erstaunt, wie seltsam das Schicksal spielen kann.
Pjotr Herrmannowitsch Salnikow. Geboren am 17. März 1920 in …
Den Ortsnamen konnte er nicht lesen. Wir sind nahe beieinander, Brüderchen, dachte Hesslich und steckte den Ausweis ein. Nur ein Jahr älter als du bin ich. Jahrgang 1919. Man wird mir dieses Jahr nicht ansehen, glaube ich.
Er beugte sich über Salnikow und sah, daß es nur noch kurze
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