Frauenbataillon
Morgen, als Dr. Semaschko die Aufzeichnungen Salnikows aus der Hand legte.
Seine Augen brannten, sein Herz zuckte seit Stunden, er hatte ein paarmal das Lesen unterbrochen und sich ein paar Tropfen in ein Glas Wasser geträufelt und hinuntergekippt. Stella Antonowna saß auf der Ofenbank, so wie sie sich am Abend hingehockt hatte. Sie schien sich nicht bewegt zu haben. Daß sie die Stiefel ausgezogen hatte, sah er erst jetzt, er hatte es nicht bemerkt. Die lederne Jagdkleidung hatte sie über der Brust geöffnet, als habe sie in der langen, schweigsamen Nacht Luft, viel Luft gebraucht.
Dr. Semaschko klopfte mit der Faust auf das dicke, in Pappe gebundene handschriftliche Buch und lehnte sich in dem alten Korbsessel weit zurück.
»Wer kennt das?« fragte er.
»Niemand. Nur du, Wiljam Matwejewitsch.«
»Warum gerade ich?«
»Du hast Gamsat geholt, du hast Nani geholt, du hast Gamsat sterben sehen, du hast Nani sterben sehen, du hast Pjotrs Hand gehalten, als er starb. Du warst immer dabei, bei allem Glück, bei allem Leid, nicht nur als Arzt, auch als Freund und unser Väterchen. Du bist bei mir geblieben, als nach und nach meine Familie, mein kleines Paradies, vernichtet wurde. Eine Rache des Schicksals? Wer weiß das? Ich will nicht daran denken. Aber sag mir, da du das alles gelesen hast: War es nun ein schönes oder ein schreckliches Leben? Ich war so glücklich mit Pjotr. War das ein Verbrechen? Wenn es eins war, so war ich die glücklichste Verbrecherin, die das, was sie getan hat, nie, nie, nie bereuen wird! Bei Gott – nie! Ich würde es ein zweites Mal tun, hundertmal – wenn ich hundert Leben hätte!«
»So ist es, Töchterchen.« Dr. Semaschko erhob sich aus dem Korbsessel, ging zum Ofen, öffnete die Klappe und warf das dicke Buch in die Glut.
Mit weit aufgerissenen Augen, gelähmt vom Entsetzen, blieb Stella sitzen.
»Was – was tust du da?« stammelte sie.
»Niemand soll wissen, was geschehen ist!«
»Du verbrennst Pjotr!«
»Ich halte Salnikow am Leben!« Dr. Semaschko kam zu Stella Antonowna, setzte sich zu ihr auf die Bank und zog sie an sich. »Als große Gestalt wird er vor uns stehen, vor uns Menschen von Nowo Kalga und am Wiljui. Die Jakuten werden ihn vielleicht in fernen Tagen besingen, das Lied vom Taiga-Jäger Salnikow werden sie singen, der im ehrlichen Kampf gegen den größten Bären der Wälder unterlag. Nun ja, man wird auch in den Lesebüchern der Schulen von der Heldin Korolenkaja lesen, wie seit dreißig Jahren, und alle werden stolz sein, daß sie gelebt und gekämpft hat. Warum ihnen dieses Glück rauben? Ist Wahrheit so wichtig?«
Stellas Kopf sank gegen Semaschkos Brust. »Es ist alles so nahe«, sagte sie leise und mit kindlicher Stimme. »Väterchen, ich habe wieder Angst.«
Er streichelte sie, zog ihren Kopf an sich, küßte ihre vom Grau durchsetzten blonden Haare und wiegte sie wie ein Kind, das endlich schlafen soll.
»Kein Grund, Angst zu haben, Töchterchen«, sagte er mit Trost in der Stimme. »Du hast noch eine Strecke Wegs vor dir. Geh aufrecht, Stella. Was gewesen ist – ach ja, wen geht ein solches Leben an? Und außerdem: Es wird ja doch niemand glauben.«
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