Frauenbewegung und Feminismus - eine Geschichte seit 1789
leide, nämlich unter Klassenherrschaft und Patriarchat, und warum es auf dem Boden der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung keine wirkliche Gleichberechtigung oder Emanzipation der Frauen geben könne. Die Kernaussage für eine sozialistische Emanzipationstheorie lautete: «Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter» (Bebel 1879/1946, 50). Dieser Klassiker der Frauenfrage erlebte noch zu Lebzeiten Bebels 52 Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt, es war die am weitesten verbreitete marxistische Agitationsschrift des 19. Jahrhunderts.
Einzelne Vorkämpferinnen
Eine, die viel wagte und deshalb verfolgt und schließlich ins Exil nach London getrieben wurde, war die Gräfin
Gertrud Guillaume-Schack
(1845–1903). Sie war angeregt worden durch die Engländerin Josephine Butler, die in den 1870er Jahren mit ihrer Kampagne gegen die
Contagious Diseases Acts
, Gesetze, die vorrangig das Militär vor der Ansteckung durch Geschlechtskrankheiten schützen sollten, das Tabu der staatlich reglementierten Prostitution gebrochen hatte. Sie gründete 1875 den
Britischen, kontinentalen und allgemeinen Bund zur Bekämpfung des staatlich reglementierten Lasters
. Der Kampf gegen eine doppelte Moral, die Bordelle duldete, Männer schützte, aber die Frauen bestrafte und unter die entwürdigende Kontrolle der Sittenpolizei stellte, war zum Ende des Jahrhunderts international eines der zentralen Themen der Frauenbewegung. Guillaume-Schack war in Deutschland insofern eine Pionierin, als sie zunächst unter dem Deckmantel des von ihr gegründeten
Kulturbundes
in unzähligen Versammlungen im Deutschen Reich als erste Frau über das Elend der Prostituierten, über Sexualität und Sittenwidriges sprach und damit ein großes Publikum, insbesondere Arbeiterinnen, erreichte. Die Zusammenkünfte wurden wegen «Erregung öffentlichen Ärgernisses» von der Sittenpolizei wiederholt verboten. Da sie, wie Bebel, einen engen ursächlichen Zusammenhang zwischen Armut und Erwerbslosigkeit von Frauen und der Prostitution vermutete, kam sie zunehmend in Kontakt mit den Sozialdemokraten. Auf ihre Initiative entstanden in mehreren Städten Arbeiterinnenvereine, die wegen der Vereinsverbote auch als
Central-Kranken- und Begräbniskassen für Frauen und Mädchen
firmierten. Sie richtete 1883 eine Petition an den Reichstag, «die Regulierung der Prostitution als eine mit der hohen Aufgabe des Staates unvereinbare Einrichtung abzuschaffen», und gab 1885/86 die Zeitschrift
Die Staatsbürgerin
heraus, in der sie u.a. scharf gegen alle im Reichstag und auch in der Sozialdemokratie geführten Debatten über das Verbot bzw. die Beschränkungen der Frauenarbeit agitierte. Nachdem sie wiederholt verurteilt worden und vonFreund und Feind als «Sozialdemokratie im Unterrock» in die Schlagzeilen geraten war, verließ sie 1886 Deutschland ins Londoner Exil.
Zu erwähnen bleibt
Hedwig Dohm
(1831–1919), die in dieser Übergangszeit vor 1880 als radikale Vordenkerin eine Reihe feministischer Streitschriften veröffentlichte, in denen sie polemisch, aber brillant und klug gegen die Geistesgrößen der sog. Gründerjahre anschrieb, gegen die «Herren Professoren», Juristen und Theologen, die von Katheder und Kanzel die Inferiorität der Frau predigten, um ihre Bastionen und Privilegien als Wissenschaft zu verteidigen. «Die Obrigkeit ist männlich», dozierte der Nationalhistoriker Heinrich von Treitschke, und der bedeutende Rechtshistoriker Otto von Gierke meinte: «Wer … dem geschichtlich bewährten Ideal des männlichen Staates die Treue hält, würde töricht handeln, wenn er ein Zugeständnis machte … Sorgen wir vor allem, dass unsere Männer Männer bleiben» (zit. n. Twellmann 1972, 203). Hedwig Dohm war mit dem Herausgeber der Satire-Zeitschrift
Kladderadatsch
Ernst Dohm verheiratet, hatte fünf Kinder und führte in Berlin ein großes Haus. Selbst Autodidaktin, die später zahlreiche Romane und unzählige Beiträge in den verschiedensten Zeitschriften veröffentlichte, widmete sie sich in ihren Schriften unverblümt dem ganzen Spektrum der Geschlechterfragen. Sie forderte eine gleichberechtigte Mädchenbildung, den Zugang zum Studium, das Recht auf Erwerbstätigkeit und vor allem das allgemeine Wahlrecht für Frauen, denn – so ihre mit vielen Belegen und Argumenten gespickte Schrift
Der Frauen Natur und Recht
(1876) – «die Menschenrechte haben kein Geschlecht».
Weitere Kostenlose Bücher