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Freakshow

Freakshow

Titel: Freakshow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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völlig harmloses Möbelstück, wenn man sich die anhaftenden schlaufenförmigen Reste silbergrauen Klebebandes einmal wegdachte. Ein ehemaliger Küchentisch aus Kiefernholz, die Beine dunkel, wo sie Wasser aufgesogen hatten, das Furnier der Platte von Alter und Feuchtigkeit aufgeworfen. Die Klebebandstreifen hingen von allen vier Beinen. Als ob man jemanden auf die Tischplatte gefesselt gehabt hätte. Um was zu tun?
    Der Akku meiner Taschenlampe begann zu schwächeln. Hastig sah ich mich noch einmal um. An mehreren Stellen des lehmigen Bodens fanden sich dreifache, sternförmig auseinanderzeigende Abdrücke. Wie von den gespreizten Füssen eines Stativs. Die Kabelspuren im Lehm liefen jeweils darauf zu. Die Stromversorgung eines Scheinwerfers? Ich leuchtete zu den hoch in den Mauerbögen sitzenden Fenstern. Alle vier waren sehr sorgfältig mit schwarzen Müllsäcken verhangen. Niemand draußen sollte mitbekommen, was sich hier drinnen abspielte.
    Die Tischbeine knackten warnend, als ich mich probeweise erst auf die Platte setzte, dann legte. Sie reichte in der Länge gerade von meinem Scheitel bis zum Arsch. Wenn ich mir die Klebebandschlaufen um die Ellenbogen pappte, passten die anderen gerade noch oben um meine Oberschenkel. Was, als Fesselung, keinen rechten Sinn machte.
    So wie nichts hier, im Moment.
    Vorsichtig stieg ich vom Tisch, ließ den matter und matter werdenden Lichtstrahl wandern. Über die Decke, die Wände, dann noch mal den Boden, wo noch die meisten Spuren zu sehen waren.
    Nackte Füße in diesem Dreck, von den Ratten ganz zu schweigen … Nackte Füße … Aus irgendeinem Grund zog ich mir den rechten Schuh aus, die Socke auch. Stellte meine Fußsohle in einen der großen Abdrücke. Eindeutig Alfreds. Von da trat ich in einen der normal groß Erscheinenden. Passte. Er musste somit von jemandem mit ungefähr meiner Statur stammen. Andere Fußabdrücke waren deutlich zierlicher. Und schließlich, im allerletzten Licht des verendenden Akkus, stockte mir der Atem. Direkt neben dem Tisch fand sich ein Abdruck, der wesentlich kleiner ausfiel als alle anderen. Sehr kompakt und mit ganz kurzen Zehen. Dann verlöschte die Birne.
     
    3
     
    Scuzzi schnarchte. Ich zog mich aus, duschte, streifte mir meine Zivilklamotten über. Die Katze kam durch die offene Tür herein, bedachte das ungeliebte Trockenfutter in ihrem Napf mit einem fischigen Blick, stänkerte eine Weile herum und stakste wieder raus. Scuzzi schnarchte ungerührt weiter.
    Ich hockte mich auf einen Stuhl, stützte meinen Kopf mit den Händen und dachte nach. Sollte Alfred sich weiterhin weigern, auf meine Fragen zu antworten, würde ich die Polizei mit runter in den Keller nehmen.
    Ich griff zum Telefon, rief im Krankenhaus an und fragte, wann ich wohl mit Alfred reden könnte. Frühestens am späten Vormittag, hieß es. Man war noch nicht ganz durch mit dem Verpflastern.
    Das gab mir ein paar Stunden an die Hand. Zeit, mich um andere Dinge zu kümmern. Scuzzi schnarchte. Mit Yogindas Foto und Datenblatt in Händen trat ich raus, vors Haus. Vögel tschilpten oder krächzten, erste Bewohner begannen durch die Gegend zu schlurfen, hellblaue Kittel eilten hin und her.
    Ich hatte, musste ich mir eingestehen, noch keine Idee, wo und wie ich mit der Suche nach dem pakistanischen Jungen beginnen sollte. Das von den Luxemburgern erstellte Dossier ließ wie immer eine gewisse Dreidimensionalität vermissen. Behörden scheinen der Ansicht zu sein, alles, was es braucht, um eine Person zu finden, seien Foto, Name, Alter, Größe und Gewicht, in diesem Fall ergänzt um so aussagekräftige Charakteristika wie Sportlichkeit, Tierliebe und Religiosität. Hatte er alles. Er war in Duisburg aufgewachsen, deshalb sprach vieles dafür, dass er sich wieder hierhin geflüchtet hatte. Doch selbst wenn: Duisburg ist groß, entmutigend groß. Trotzdem. Ich raffte mich auf, griff nach den Aufschlüsseln. Wie so viele vorangegangene Suchen nach verschwundenen Kindern und Jugendlichen begann ich meine Recherche am größten Magneten für Gestrandete in jeder Stadt: am Bahnhof.
     
    Als Folge der Renovierung des Duisburger Hauptbahnhofs ist die große Eingangshalle vielen Leuten um einiges zu hell geworden, weshalb sich das - sagen wir mal - weniger bahnreisenorientierte Treiben ein Stückweit zur Seite verlagert hat, ins rund um die Uhr unübertroffen schummrige Licht des Busbahnhofs. Der schmale Halbwüchsige in Sportshorts und einem langärmeligen, am Hals weit

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