Freakshow
ausgeschnittenen T-Shirt, der sich in der Nähe des Männerklos herumdrückte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem von mir Gesuchten, sah man einmal von der dunklen Haut, den dunklen Haaren und ebenso dunklen Augen ab. Damit stammte er ziemlich eindeutig vom indischen Subkontinent, so wie rund eine Milliarde andere Menschen auch. Doch irgendwo und mit irgendwem musste ich anfangen, also ging ich auf ihn zu.
Sein Blick maß mich, wog mich, kategorisierte meine berufliche wie sexuelle Ausrichtung und kalkulierte den Stand meiner Finanzen in einer einzigen Auf-und-ab-Bewegung. Dann wandte er sich zum Gehen. Nichts zu holen, hatte er entschieden. Und ich besaß weder die Mittel noch sah ich die Notwendigkeit, ihn eines Besseren zu belehren. Schließlich wollte ich ja nur eine Auskunft von ihm.
»Warte mal«, sagte ich, und er beschleunigte den Schritt. »Ich muss nur kurz mit dir reden.« Ich streckte die Hand nach seiner Schulter aus und griff ins Leere, weil der Knabe blitzartig in den Treppenaufgang zum nächsten Bahnsteig abgebogen war. Wachsende Ungeduld jagte mich hinter ihm her, doch als ich oben ankam, sprang er schon längst wieder die andere Treppe hinab, und das war’s, für mich. Es gibt Lustigeres, als hinter flüchtenden Strichjungen herzurennen wie ein notgeiler Freier.
Entnervt ging ich zurück zum Wagen und ließ mich in den Sitz fallen. Manchmal ist alles einfach nur zäh. Jemand klopfte auf das Wagendach und ich fuhr hoch, schweißgebadet. Hatte ich geschlafen? »Wenn Sie hier parken wollen, müssen Sie erst einen Parkschein lösen«, belehrte mich eine blau Uniformierte barsch. »Und wo ist Ihre Feinstaubplakette?« Ohne ein Wort - es wäre zu teuer gekommen, und ich hatte nun wirklich schon genug am Hals - startete ich den Motor und verbrannte Gummi beim Losfahren. Plötzlich wusste ich, wo ich hinwollte. Diese Suche, ging mir auf, konnte man von zwei Enden her in Angriff nehmen.
»Ich suche diesen Jungen«, sagte ich und reichte Heckenpennes das Foto.
Er nahm es, drehte es ins Licht und betrachtete es stirnrunzelnd.
»Und zwar«, schickte ich hinterher, »in einer Art Wettlauf. Mit Benjamin Peelaert.«
Heckenpennes sah ruckartig auf. »Onkel Ben«, sagte er. »Immer noch am Leben und immer noch in Freiheit? Das darf doch nicht wahr sein.« Als Software-Entwickler war Heckenpennes seinerzeit ausschlaggebend daran beteiligt gewesen, Peelaerts unkenntlich gemachtes Gesicht wiederherzustellen. Auf Hunderten von kinderpornografischen Aufnahmen. »Und aller außerordentlichen Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden zum Trotz«, kommentierte er säuerlich und kratzte sich den strähnigen Skalp mit Fingernägeln, wie man sie sonst nur an Dieselmechanikern findet. Alexander Lehnkering, so sein bürgerlicher Name, ist ein Genie und als solches erhaben über alles Profane, angefangen bei körperlicher Hygiene. Seine Firma Hedgesleeper Solutions entwickelt Scanner zur Personen-Identifizierung, und Heckenpennes verdient sich blöde damit. »Hinzu kommt, dass ein ehemaliger Kollege bei der Luxemburger Polizei Peelaert mit allem gefüttert hat, was die über den verschwundenen Jungen wissen. Das heißt, er hat auch noch einen zeitlichen Vorsprung mir gegenüber.«
Heckenpennes nahm Yogindas Foto wieder hoch und das Dossier über den Jungen in die andere Hand, sah von einem Blatt zum anderen. »Ich lasse mir etwas einfallen«, sagte er, stieg in seinen privaten Aufzug und verschwand.
Wenn Heckenpennes sich etwas einfallen lässt, hat das immer mit Computern zu tun, und alles, was mit Computern zu tun hat, dauert. Ich sah mich in seinem chaotischen, oben auf der Entwicklungsabteilung seiner Scanner-Fabrik thronenden und den Mülheimer Flughafen überblickenden Penthouse nach einem freien Sitzmöbel um. Dann strich ich >frei< aus der Sucheingabe, entschied mich für einen Sessel, räumte die Zeitschriften, Bücher, Pizzakartons, Bierdosen, Unterhosen, T-Shirts und Socken von der Sitzfläche, ließ mich nieder und beobachtete vier satt und angetrunken wirkende Typen in Anzügen beim Besteigen eines zweimotorigen Flugzeugs. Oder beim Einsteigen in eins, eher. »Wir müssen davon ausgehen …«, sagte Heckenpennes, und ich schreckte hoch. Hatte ich geschlafen? »Dass Peelaert als ehemaliger Untersuchungsrichter Wege zu einer neuen Identität gefunden hat. Obendrein wird er sein Aussehen verändert haben.«
Er saß mir gegenüber auf dem Boden und rührte im Inhalt seines Flachrechners, indem er mit dem
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