Freddie 03 - Wann heiraten wir Freddie
ankommen.« Sie beeilten sich, ihr einstimmig zu versichern, daß sie sie selbstverständlich wecken würden, denn, wie der Großvater bemerkte: »Wir schlafen ja nicht mehr so fest wie ihr Jungen« — eine Verallgemeinerung, die der Lolitaleser in die falsche Kehle bekam.
Dieser Herr begann auf einmal einen Hang zur Galanterie an den Tag zu legen, der Freddie anödete, und plötzlich kam ihr der Gedanke, daß Jonathan diese Art »Leute aufzugabeln, wo sie ging und stand« — wie er das nannte — keinesfalls billigen würde. So sagte sie höflich, sie wäre jetzt schrecklich müde und ob sie ihr bitte versprechen würden, sie zeitig zu wecken.
Das erste, was danach in ihr Bewußtsein drang, war das Knirschen der Zugbremsen und ein leichter Tumult im Wagen. Überall um sie herum lagen ihre Habseligkeiten verstreut, und sie selbst war noch wie betäubt vom Schlaf, aber irgendwie gelang es den Männern, sie zur Tür zu bugsieren, und, die Arme vollgepackt bis obenhin mit ihrem Mantel, den Handschuhen, der Handtasche, dem Reisekissen und den Schuhen, die sie ausgezogen hatte, sprang der junge Mann mit Todesverachtung hinter ihr ab. Freddie war vor lauter Dankbarkeit und Schlaftrunkenheit so benommen, daß sie von dem Kuß, den er ihr auf die Wange hauchte, kaum Notiz nahm, noch seine Worte hörte: »Sie sind richtig süß«, als er tollkühn auf den abfahrenden Zug aufsprang.
Im letzten Augenblick warf ihr der ältere Herr, den sie bei sich den »Bischof auf Abwegen« getauft hatte, noch zusammen mit einem Abschiedsgruß ein Buch nach, und erst sehr viel später entdeckte Freddie, daß sie Lolita zwar gewonnen, den Muskatnußbaum dafür aber eingebüßt hatte. Als der Bischof seinen Irrtum bemerkte, vermochte ihn Miss Sharp durchaus nicht über den Verlust eines Buches hinwegzutrösten, das er mit soviel Schwierigkeit aufgetrieben und seiner Frau mitzubringen versprochen hatte. Mürrisch stellte er fest, daß das Mädchen verdammt schwatzhaft gewesen sei, und überhaupt glaube er nicht, daß sie eine gute Krankenschwester abgäbe; woraufhin er verdrießlich einschlummerte. Der junge Mann hingegen lächelte selig, als er durch das Fenster in die Nacht hinausstarrte. Sie war sehr süß und freundlich gewesen und hatte ihm den flüchtigen Kuß nicht im geringsten übelgenommen.
Noch immer nicht ganz munter stand Freddie da, sah dem in der Dunkelheit entschwindenden Zug nach und kam sich entsetzlich verlassen vor. Ihre Besitztümer waren gleichmäßig über den Bahnsteig verteilt, und vom Himmel fiel ein kalter Regen herab. Wie immer, wenn ihr jämmerlich zumute war, suchte sie in Gedanken Trost und Zuflucht bei Jonathan. Plötzlich sagte sie laut: »Benimm dich doch nicht wie ein Säugling. Heb lieber deinen Mantel und das Portemonnaie, das Buch und die Handschuhe auf und zieh dir deine Schuhe an und —«
Da vernahm sie dicht neben sich eine muntere Stimme: »Hilfe gefällig, Fräulein?« Es war der Bahnbeamte, der Nachtdienst hatte. Er tat noch nicht lange auf diesem sehr kleinen und sehr unbedeutenden Bahnhof Dienst und brannte vor jugendlichem Eifer. Rasch sammelte er ihre verstreute Habe ein und sagte vergnügt: » Ham Sie noch im Flug erwischt, wie? Macht nichts. Alles da und in Ordnung, und wenn Sie Fräulein Standish sind, hab’ ich ’ne telefonische Nachricht für Sie.«
Freddie konnte das kaum fassen, da sie an die unpersönliche Geschäftigkeit eines großen Hauptbahnhofs gewöhnt war, und sofort fühlte sie sich nicht mehr verlassen. »Wie haben Sie das denn erraten?« fragte sie, als sie mit ihren Siebensachen auf dem Arm hinter dem Bahnbeamten und ihren Koffern drein auf die offene Tür des kleinen Warteraums zutrottete .
»Nicht schwer. Sie sind der einzige Passagier, der heut nacht hier ausgestiegen ist... Jock Baker hat vor ’ner halben Stunde angerufen, daß er später kommt. Hat unterwegs Pech gehabt. Wird aber gleich hier sein, und Sie brauchen sich keine Sorgen machen.«
Freddie fühlte sich leicht zerschmettert. Sie hatte die Hoffnung gehabt, auf der Stelle in einen Wagen klettern zu können, um so rasch wie möglich am Krankenlager ihres Vaters abgeliefert zu werden. Auf diesem zugigen, trübsinnigen Bahnsteig um drei Uhr in der Frühe gestrandet zu sein, bedeutete einen ziemlichen Tiefschlag. Und mit jeder Minute schien der Regen stärker zu werden.
Ihr Retter indessen fuhr fort: »Hier drinnen ist ’n schönes Feuer an. Mein Kollege hat jetzt frei, aber ich bin die ganze Nacht da,
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