Freddy - Fremde Orte - Blick
Realität auslöschen möchte. Ich sehe Ungeheuer, aus deren Körper Klingen ragen, und junge Menschen werfen sich ihnen entgegen, weil sie die Klingen nicht wahrnehmen. Es sind immer wieder andere Leute, die dabei ihr Leben lassen, Menschen, die ich kenne, du, die anderen Studenten, oder Leute, von denen ich annehme, dass ich sie in einem früheren Leben kennen gelernt habe. Nichts, was da unten ist, kann schlimmer sein als meine Träume. Deshalb muss ich hinuntergehen und versuchen, die Wirklichkeit darüber zu legen. Du kannst hier oben bleiben, wenn du möchtest. Es dauert nur ein paar Minuten.“
„Ich begleite dich“, sagte Melanie. Die fieseste und kälteste Gänsehaut ihres Lebens kroch kreuz und quer über ihren Rücken, wie es ihr gerade gefiel, und die Studentin tat alles, um sie zu ignorieren.
7
Melanie kannte nur die wichtigsten Eckdaten von Madokas Schicksal. Margarete Maus hatte sie ihr erzählt, wie sie auch die anderen Studenten darüber aufgeklärt hatte. Daraufhin hatte es Streit mit Werner gegeben, der Madokas Vergangenheit lieber geheim gehalten hätte. Das war sein Verständnis seiner Aufgabe als Rektor. Doch auch Margarete hatte es nicht böse gemeint. Wie immer vertrat sie den Standpunkt, dass man alle Probleme lösen konnte, wenn man nur offen und ehrlich miteinander sprach, alle Themen aufs Tapet brachte und gründlich ausdiskutierte.
Sehr viele Details hatte Melanie nicht erfahren. Aber als sie mit der Japanerin zusammen die steile weiße Treppe ins Untergeschoss hinabkletterte, wurde ihr klar, dass sich Madokas Tragödie hier unten abgespielt haben musste. Hier hatte sie sich Zugang verschafft und die experimentelle Behandlung unterbrochen, bei der ihr Bruder in die Rolle eines Mörders geschlüpft war. Die suizidgefährdeten jungen Leute sollten glauben, einem geisteskranken Killer ausgeliefert zu sein, um einen Überlebenswillen zu entwickeln. Madoka war mitten zwischen die Fronten geraten, ohne es zu wollen. Wegen ihr war die unorthodoxe Behandlung an die Öffentlichkeit gekommen. Wegen ihr waren ihr Bruder und ihr Vater zu Verbrechern erklärt worden. Wegen ihr hatten einige der verstörten Patienten sich das Leben genommen.
Es war nicht verwunderlich, dass sie böse Träume hatte, doch dass sie auch nach acht Jahren noch keine Ruhe davor gefunden hatte, stimmte Melanie traurig. Madokas Tagebücher hatten viele von ihnen schon einmal flüchtig gesehen. Keiner konnte sie lesen. Waren sie wirklich gefüllt mit den Schilderungen ihrer Albträume?
Im Augenblick konnte sie nur eines für sie tun: Sie begleiten – und hoffen, dass Madoka ihrerseits sie begleitete, wenn Melanie irgendwann ihrem eigenen Nachtmahr gegenüberstand.
Die Treppe nach unten war in einem schlechten Zustand. Auch sie bestand aus Holz, und Fäulnis hatte tiefe Löcher hineingefressen. Madoka hatte ihre Taschenlampe eingeschaltet und beleuchtete damit die Stellen, auf die sie ihre Füße setzten. Man hätte sich eine zweite Lampe gewünscht, um Helligkeit in die Finsternis zu bringen, die einige Meter weiter lauerte, und um zeigen, wie es über ihren Köpfen aussah. Melanie schlug sich den Kopf an einem Balken an und wusste nicht einmal, ob der Balken an diese Stelle gehörte, oder ob er darauf hindeutete, dass die Decke sich bereits in ihre Einzelteile auflöste.
Bisher war ihr kein besonderer Geruch aufgefallen. Es hatte nach Staub und Moder gerochen, nicht mehr. Die oberen Stockwerke waren durch die zerbrochenen Fensterscheiben gut belüftet gewesen. Doch aus der Tiefe kam ein Übelkeit erregender süßlicher Gestank, als wäre dort unten ein großes Tier verendet. Feuchtigkeit sammelte sich an den Wänden und wirkte auf den schwarzen Moderflecken wie flüssiger Teer. Sie wurde Zeuge, wie die letzte Stufe unter Madoka wegbrach.
„Ich möchte wissen, wie es hinter der Tür aussieht“, sagte die Japanerin. Sie hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt.
Der fahle Lichtkegel der Taschenlampe entriss der Dunkelheit eine helle Stahltür. Der Alterungsprozess, der das Haus in eine Ruine verwandelt hatte, schien bei ihr machtlos gewesen zu sein. Die Tür warf das Licht zurück. An ihr waren keine Rostflecken zu erkennen.
„Als hätte man sie gestern erst eingebaut“, murmelte Melanie im Selbstgespräch.
„Zum Glück ist sie offen.“ Madoka lenkte den Lichtstrahl auf ein Stück Holz, das zwischen Tür und Rahmen eingeklemmt war. Zufall? Kaum. Hier hatte jemand verhindert, dass die schwere Tür, die
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