Freddy - Fremde Orte - Blick
weder Klinke noch Knauf hatte, zufiel. Gemeinsam drückten sie sie auf. Sofort wurde der widerliche Gestank stärker. Melanie betrachtete das Holzstück. Es schien ein Stuhlbein zu sein.
Als der Gang vor ihnen lag, spürte Melanie eine eisige Hand nach ihrem Herzen greifen. Sie konnte nicht sagen, woran es lag. Der Gang war in besserem Zustand als jene über ihnen, denn Fußboden und Wände waren hier aus Beton. Es gab Spinnweben und Staub, aber keinen Schimmel und keine ramponierten Wände. Der Flur war leer, und ihre Schritte hallten darin wider. Melanie hatte plötzlich das Gefühl, etwas habe hier unten auf sie gewartet. Weiter vorne bog der Gang nach links ab, und irgendetwas war hinter dem Knick. Sie spürte es einfach.
„Mir ist schlecht“, gestand Madoka unvermittelt. „Falls ich umkippe, lässt du mich nicht hier liegen, oder? Du wirst nicht wegrennen.“
„Natürlich nicht!“, versicherte Melanie. „Hör zu, ich möchte dir keine Angst machen, aber ich fühle mich auch nicht besonders. Wahrscheinlich ist es dieser Gestank.“
„Gehen wir um den Knick“, sagte Madoka. Sie tastete nach Melanies Hand und zog die Rothaarige hinter sich her. Vor der Biegung fasste Melanie nach Madokas Schulter.
„Was ist, wenn jemand das Stuhlbein wegnimmt und die Tür schließt?“
„Falls das Türschloss einschnappt, sitzen wir hier unten in der Falle. Es gibt keine Fenster, und ob wir uns mit Rufen oder Klopfen bemerkbar machen können … na ja.“ Sie sah nach oben. „Nein, kein Grund zur Panik. Ich glaube, wir hätten eine Chance, durch die Decke zu kommen. Sie ist aus Holz.“
Madokas Taschenlampe flackerte. „Ich hätte sie im Hotel aufladen sollen“, brummte sie. Das Licht erholte sich wieder, auch wenn es Melanie so vorkam, als wäre es schwächer geworden.
„Wie lange möchtest du noch hier bleiben?“, erkundigte sich Melanie vorsichtig. Sie hatte sie vorgenommen, Madoka nicht zu hetzen, aber das war vor dem Gestank gewesen, vor dem Gedanken, womöglich hier unten eingeschlossen zu werden, und bevor die einzige Lampe geflackert hatte.
„Da hinten war es“, sagte Madoka statt einer Antwort. Sie waren um die Ecke gebogen. „Da hinten habe ich meinem Bruder gegenübergestanden.“ An der Stelle, auf die sie zeigte, war nichts zu sehen. Es war einfach nur das Ende des Flurs. Ein Rollbild hing schief dort. „Das Dienstzimmer! Da ist etwas!“
Jetzt zuckte Melanie wirklich zusammen. Was sollte denn das heißen? Was war da? Die meisten Türen zu den Zimmern standen offen, und sie hatte hier und da einen Blick hineingeworfen und nichts Nennenswertes gesehen. Madoka richtete den Lichtstrahl auf einen der hinteren Räume.
Jetzt sah Melanie es auch.
Die Tür dieses Zimmers war geöffnet, und etwas lag auf dem Boden, ragte ein Stück aus dem Raum heraus …
Es sah aus wie ein menschliches Bein.
Madoka war mit ein paar schnellen Schritten dort. Sie leuchtete über den Boden, in das Zimmer hinein. „Willst du auch ein paar Albträume ab?“, fragte sie nach ein paar Sekunden und räusperte sich.
„Ist es etwas, das mich anspringt?“, wollte Melanie wissen.
„Ich fürchte, das kann es … oder sie nicht mehr …“
Melanie fühlte sich ohnehin nicht mehr wohl, wo sie stand, seit das Licht so weit von ihr entfernt war. Die Dunkelheit schien sich hinter ihr zu ballen und sich auf einen Angriff vorzubereiten. Sie lief zu der Japanerin hinüber, bereitete sich innerlich darauf vor, einen toten Menschen zu sehen.
Und behielt Recht.
Die Leiche lag auf dem Rücken. Als sie noch gelebt hatte, war sie vermutlich eine junge Frau gewesen, mit langen Haaren, einem Minirock und einer flippigen rosa Bluse. Ihr Gesicht gab darüber keinen Aufschluss, denn von ihrem Fleisch war nicht mehr viel übrig. Braune, ledrige Hautreste klebten noch an ihrer Stirn, doch die untere Gesichtshälfte war vollkommen skelettiert. Schiefe Zähne grinsten die beiden an. Sie lag in einem Haufen kleiner brauner Scherben. Die Schränke waren offen, Medikamentendöschen über den Boden verstreut. Von den Arzneifläschchen rührten auch die Scherben her.
„Sie ist nicht verhungert“, sagte Madoka. „Die Tür hat sie extra offengelassen, um wieder hinauszukommen. Aber dazu war sie nicht mehr fähig, als sie sich den Inhalt dieser Schränke zu Gemüte geführt hatte. Sie ist an einer Überdosis an Medikamenten gestorben.“ Die Japanerin tippte eines der intakten, aber leeren Fläschchen an. „Ein Schlafmittel, hübsch
Weitere Kostenlose Bücher