Frederikes Hoellenfahrt
Ehrlicher selbst wurde verletzt. Miersch wurde freundlicher. »Nichts Neues, Ehrlicher. Sie fahren und fahren.«
»Aber wir haben den Namen.«
Miersch verstand nicht. »Welchen Namen?«
»Von einem der Kidnapper.«
»Wie heißt er?«
»Philip Thede.«
»Serbe? Kroate? Albaner?«
»Deutscher. 1986 in Leipzig geboren. Zwei abgebrochene Lehren, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Vorbestraft wegen räuberischer Erpressung und Körperverletzung.«
»Hat er Verbindungen zu Sokol Mistic?«
»Wir kennen keine.«
»Aber Sie sind sicher, dass er einer der Täter ist?«
Agnes Schabowski drängte sich hinter Ehrlicher zu ihm ins Büro. »Alle Indizien sprechen dafür. Eine der Masken heißt Philip Thede.«
Sie hätten ihm jeden beliebigen Namen nennen können. Miersch zweifelte. »Philip Thede, warum Philip Thede?«
14:10
Unablässig dachte Kain daran. Frederike musste raus aus dem Wagen. Bei ihr verschoben sich die Realitäten. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, wer sie war. Sie redete mit sich selbst. Frederike sang. Widele, wedele, hinterm Städtele hält der Bettelmann Hochzeit. Pfeift das Mäusele, tanzt das Läusele, schlagt’s das Igele Trumme. Sie erzählte von Hotelzimmerkarrieren und FDGB-Urlauberheimen. Sie lachte. Sie fragte ihn, was sie Bruno untern Weihnachtsbaum legen könnte. Hast du eine Idee Kain?
Kain hatte es aufgegeben. Er schielte auf die Anzeigen hinterm Lenkrad. Über hundertachtzig pendelte die Geschwindigkeit. Fast immer. Wenn doch gebremst werden musste, flog er fast an die Frontscheibe. Frederike knallte mit dem Kopf an die Stützen und freute sich über solchen Rummelspaß: Noch mal! Bitte noch mal!
Die Tankanzeige stand kurz vor dem roten Bereich. Hundert Kilometer, schätze er, würden sie vielleicht noch kommen. Bald wäre die Möglichkeit da. Sie mussten wieder halten. Sie mussten wieder tanken. Er würde sofort die Zentralverriegelung kappen. Er würde schreien. Er würde Frederike, wenn nötig, selbst aus dem Auto ziehen. Sie musste hier raus. Er musste hier raus! Frederike drehte durch. Und er stand kurz davor, seinen Verstand zu verlieren.
»Lassen Sie die Frau gehen! Sie ist wahnsinnig!«
Mit den beiden Masken zu verhandeln war unmöglich. Der Kleine hatte sofort geschossen, um ihnen jeden Fluchtgedanken zu verbieten. Die Kugel steckte vor ihm im Armaturenbrett. Die beiden waren nur auf den Bruder im nahen Kosovo fixiert, irgendwo dort musste der wohnen. Der Kleine setzte seine ganze Hoffnung auf ihn.
Doch die Maske mit den dicken Lippen zweifelte daran. Dein Bruder weiß gar nicht, dass wir kommen! Der Kleine von der Rückbank war sich aber des guten Endes sicher. Der weiß alles! Mangels Alternative trat der Fahrer noch stärker aufs Gas. Auf deine Verantwortung! Der Kleine nickte. Auf meine Verantwortung, klar.
Kain hatte mehrmals einen Unfall und damit ihr Ende vorausgesehen. Die Lippen hatten überholt, als gäbe es keinen Gegenverkehr. Sie waren auf Baustellen gefahren, wo der Asphalt noch nicht ausgekühlt war. Auf der Donaubrücke standen sie kurz vor dem Abgrund. In Belgrad herrschte Innenstadtverkehr, die Lippen behielten ihre Hand auf der Hupe. Trotzdem hatten sie Fahrzeuge gerammt und Blechschäden verursacht. Kain lief der Schweiß. Er schaute nicht mehr nach vorn, und irgendwann war ihm alles egal. Nur nicht Frederike.
Frederike sang. Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen in Berg und Wald und Strom und Feld. Manche der Lieder hatte auch seine Mutter gesungen. »Was man als Kind gelernt hat, vergisst man nie wieder.«
»Ja, Frederike. Sei still.«
»Wir haben zu Hause immer gesungen. Und in der FDJ, wenn wir wandern gingen. Sächsische Schweiz. Thüringer Wald. Der Brocken war damals noch offen.«
»Ja. Frederike, ja.«
Frederike lächelte ihn an und streichelte seine Hand. Muss i denn, muss i denn zum Sädtele hinaus, Städtele hinaus, und du, mein Schatz bleibst hier … Ihr Zustand machte Kain Angst. Er musste sie retten. Sie musste raus hier. Er musste raus!
Die Landschaft zeigte am Horizont mächtige Bergketten. Davor kaum Häuser, kaum Autos auf der Straße. An den Mautstellen hatten Fahrer aus stehenden Autos heraus gedroht, als sie an ihnen vorbeifuhren. Bezahlt hatten sie nicht.
Die dicken Lippen hatten das Fenster nach unten gedreht und den Ellenbogen außen. Es sah fast aus, als würde er pfeifen. Heut ist ein sonniger Tag, die Sonne lacht uns so
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