FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
Fußboden öffnete. Sie konnte sich gerade noch beherrschen. Nachdem sie den Schieber der Laterne ein wenig weiter geöffnet hatte, leuchtete sie in das Loch hinein. Ausgetretene Treppenstufen führten hinunter.
Hier war das Phantom von Klaus Emmerich hinuntergestiegen, keine Frage! Der Kerl musste sich also noch dort unten befinden!
Mit klopfenden Herzen stieg Rosa die wenigen Stufen hinab. Auf der letzten Stufe horchte sie angespannt in die Dunkelheit, aber kein verdächtiges Geräusch war zu hören. Ein kurzer Gang führte nach rechts in einen größeren Raum, der in kleinere Kammern unterteilt war. In jedem der schmalen Kammern standen Sarkophage mit Gebeinen von unbekannten Adeligen und hoch angesehenen Persönlichkeiten vergangener Jahrhunderte.
Sie hatte eine Krypta entdeckt, eine unterirdische Grabanlage, die normalerweise unter dem Chor gotischer oder romanischer Kirchen lag! Diese aber befand sich eher neben dem Dom. Konnte es sein, dass hier schon einmal ein anderes Kirchengebäude gestanden hatte, ehe Otto I. den Dom bauen ließ?
So muss es wohl gewesen sein, dachte Rosa, ein wenig stolz über ihre Entdeckung.
Was wohl unser Domprediger Reinhard Bake, der Küster oder die Herren des Domkapitels zu dieser Entdeckung sagen werden? – Doch Schluss mit dem Grübeln! Wo ist der Mann hin, der dem ermordeten Klaus Emmerich so ähnlich sieht?
Rosa ging den Gang hinunter, von dem rechts die Grabkammern abzweigten.
Sie hatte keine Angst, dem Mann in die Arme zu laufen. Sie machte sich keine Gedanken darüber, was ihr passieren könnte, und sie fürchtete sich auch nicht vor den dunklen und muffigen Gemäuern oder den Grabstätten der Toten in der Krypta – so sehr hielt sie die Abenteuerlust gefangen.
Plötzlich hörte sie wieder diese schlurfenden Schritte, die sie noch von ihrer ersten Begegnung her kannte. Sie folgte ihnen durch das niedrige Gewölbe, vorbei an Grabplatten und Sarkophagen. Etwas quietschte vor ihr in einem der Räume, dann ein dumpfer Schlag, als wenn zwei Steinplatten zusammengeschlagen worden wären, dann Stille.
Wo war der Mann hin?
Rosa öffnete den Schieber ihrer Blechlaterne ganz, um besser sehen zu können. Eilig ersetzte sie das fast abgebrannte Talglicht und begann das hintere Gewölbe der Krypta zu durchsuchen. Viel Zeit hatte sie nicht, denn ihr Vorrat an Unschlittkerzen ging zur Neige. Doch nichts verriet, wo der Mann geblieben sein konnte. Keine offene Tür führte in einen weiteren Raum oder über eine Kellertreppe nach draußen. Ratlos stand Rosa am Ende der Krypta.
»Wo bist du, Emmerich?«, flüsterte sie, »du kannst dich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Irgendwo musst du stecken.«
Noch einmal begann sie die einzelnen Nebenräume abzusuchen, diesmal gründlicher. Besonders aufmerksam betrachtete sie dabei den Boden. Der Mann hatte mit Sicherheit Fußspuren hinterlassen. Schließlich war hier unten vielleicht schon seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten niemand mehr gewesen – ausgenommen, der Mann, dem sie nachspürte.
Und richtig! Im letzten Gewölbe, in dem auch ein Sarkophag stand, entdeckte sie im Staub die Fußabdrücke eines Mannes, die etwas mehr als eine große Spanne lang waren. Sie führten zu einer Grabplatte, die in der linken Wand eingelassen war. Doch sie kehrten nicht wieder zurück!
Die Grabplatte musste eine geheime Tür sein. Rosa stellte ihre Laterne auf dem Sarkophag ab und betrachtete die Grabplatte. In Latein stand dort zu lesen:
ET MORTUUS EST? QUID MIRARIS?
Auch er ist gestorben? Was wunderst du dich?
Rosa konnte zwar schreiben und lesen, doch Latein hatte sie nicht gelernt. Sie vermutete richtig: Es ging hier um jemanden, der gestorben war, und über den man sich wundert.
So wie über den Emmerich, dachte sie.
Der Rest der Grabplatte war so verwittert, dass sie nicht herausfinden konnte, wem sie gewidmet war und aus welcher Zeit sie stammte. Sie musste aber schon uralt sein. Vielleicht stammte sie ja noch aus der Zeit Albrecht I. von Käfernburg, der den Dom 1209 neu errichten ließ, nachdem dieser zwei Jahre zuvor durch ein Feuer zerstört worden war. Doch nein, die Krypta musste ja zu einem Kirchengebäude gehören, das hier stand, als der Dom noch nicht einmal geplant war.
Rosa versuchte die Grabplatte aufzuklappen oder seitwärts zu verschieben, aber sie bewegte sich keinen Fingerbreit. Sie klopfte gegen die Mauer, dann gegen die Platte. Es klang anders, dumpfer, hohl. Hinter der Grabplatte musste sich ein Hohlraum
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