FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
Mann. Dann steckte er das Talglicht in eine Laterne und verließ den Raum durch eine niedrige Tür. Er steckte den Kopf noch einmal durch den Türspalt und sagte: »Versuch nicht zu schreien. Es hört dich hier sowieso niemand – außer die Ratten.«
Dann war er verschwunden, und Rosa war allein in ihrem finsteren Verlies.
Wenn Benno doch da wäre! Sicherlich suchte er sie. Doch wo sollte er anfangen? Sie hatte ihm nicht gesagt, was sie vorhatte. Warum war sie auch so dumm gewesen, Emmerich allein aufspüren zu wollen!
Verzweiflung erfasste sie. Was sollte sie tun? Befreien konnte sie sich nicht. Hilferufe brachten auch nichts. Jetzt konnte sie nur noch beten.
»Herr«, sagte sie halblaut, »hilf mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und ich habe Angst, fürchterliche Angst. Lass du mich nicht auch noch allein.«
Benno konnte nicht schlafen, und er wusste anfangs nicht, was ihn mehr aufwühlte: Seine Sorgen um Rosa oder seine Gefühle für Anneliese, die Jagd nach Emmerichs Phantom oder das Donnern von Tillys Kanonen vor den Toren Magdeburgs, die nach einer kurzen Ruhepause den Beschuss der Stadt fortgesetzt hatten. Unruhig wälzte er sich auf seinem Bett hin und her und zählte die Detonationen. Es mussten weit mehr als hundertfünfzig Kanonen und Mörser sein, die nun pausenlos ihre todbringenden Geschosse von allen Seiten über die Mauern feuerten.
Hier in seiner kleinen Dachwohnung war er relativ sicher, weil sie nicht weit vom Dom lag.
Nachdem die feindlichen Kanonen am Abend für eine kurze Pause geschwiegen hatten, hatte er Anneliese nach Hause begleitet.
Menschen eilten mit angstverzerrten Gesichtern durch die Gassen. Männer versuchten Brände zu löschen, während Frauen und Kinder ihnen Wassereimer reichten. Andere räumten den Schutt zerstörter Häuser zur Seite. Heilkundige versorgten die Verletzten notdürftig. Die ganze Stadt war in Aufregung.
»Ein Glück, dass der Beschuss keine schweren Schäden angerichtet oder einen größeren Brand entzündet hat!«, sagte Benno.
Anneliese nickte nur. Die Angst saß ihr offensichtlich noch in den Knochen.
»Schau mal, da liegt eine Kettenkugel.«
Benno zeigte auf zwei Kugeln, die durch eine Kette miteinander verbunden waren. »Diese Geschosse rotieren im Flug umeinander und reißen doppelt so große Löcher in Dächer und Hauswände. Was Menschen so alles erfinden, um sich gegenseitig umzubringen oder ihr Eigentum zu zerstören! Und jetzt diese französischen Bomben. Die werden den Krieg revolutionieren und noch mehr Leben vernichten, das sag ich dir!«
Er schüttelte seinen Kopf, doch Anneliese sagte auch dazu nichts, sondern schmiegte sich nur noch enger an ihn.
Unterwegs war ihnen der Bau- und Schutzherr Otto Guericke begegnet. Der Neunundzwanzigjährige hatte einen hochroten Kopf und schien wirres Zeug zu reden.
»Man sollte die Stadt neu aufbauen«, sagte er zu den beiden, als wären sie alte Vertraute, während er mit der Linken seine dunkelblonden buschigen Haare zerzauste. »Wenn die Kaiserlichen noch mehr mit ihren Bomben und Kanonenkugeln zerstören, könnte man breite Straßen und große Plätze anlegen. Diese engen und verwinkelten Gassen sind eine reine Plage! Nicht mal zwei Kutschen können aneinander vorbeifahren. Breite Straßen braucht die Stadt, das sag ich Ihnen, breite Straßen.«
Er lief mit wehendem schwarzem Mantel weiter, ohne Benno und Anneliese noch einmal zu grüßen, und verschwand mit sich selbst redend in einer Gasse, die so eng war, dass sich die gegenüberliegenden Bewohner beinahe die Hände reichen konnten.
»Der Krieg raubt uns allen noch den Verstand«, sagte Anneliese leise.
»Nun ja, unser Schutzherr scheint wirklich ein wenig durcheinander zu sein, aber so ganz unrecht hat er nicht«, versuchte Benno sie abzulenken. »Magdeburg ist total verbaut. In manchen Vierteln bin ich schon mehrfach im Kreis gelaufen, und in der Gerbergasse hätte mich beinahe ein Kutscher über den Haufen gefahren. Ich konnte mich gerade eben noch an eine Hauswand drücken. Sollte es einmal so richtig brennen, wird das Feuer rasend schnell von einem Haus zum nächsten überspringen.«
»Wie in dem Jahr, in dem ich geboren wurde.«
Anneliese schüttelte sich.
»Beim Abladen eines Fuders Stroh in der Petri-Gemeinde geriet das Stroh in Brand, und ein starker Ostwind trieb die Flammen bis zum Schrotdorfer Tor. Über 200 Häuser und die Katharinenkirche wurden innerhalb von nur drei Stunden zerstört. Und doch hat man die Stadt
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