FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
sollte der Mann seine Drohung wahr machen, und sie einfach zurücklassen.
Wie viel Zeit verging, in der sie ihr Peiniger nicht eines einzigen Blickes würdigte, sondern nur irgendwelche Zahlenkolonnen studierte, konnte sie schwer abschätzen.
Nur an den niederbrennenden Talglichtern, die der Mann nacheinander entzündete, ließ sich erraten, wie lange sie schon hier stand. Ihre Finger waren taub geworden, weil kaum noch Blut hineinfloss, und ihre Füße schmerzten.
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Ja, das war es! Das war des Rätsels Lösung. Der Mann war nicht Klaus Emmerich, natürlich nicht.
»Du bist Emmerichs Zwillingsbruder!« rief sie in die Stille hinein.
Der Mann am Tisch erstarrte.
»Und du bist in seine Rolle geschlüpft, um die Mörder deines Bruders herauszulocken. Du willst sie glauben machen, dass der Tote jetzt hinter ihnen her ist. Du willst ihnen einen gehörigen Schrecken einjagen, sie in Panik versetzen, sodass sie sich verraten.«
Der Mann drehte sich um und starrte sie an: »Klaus Emmerich hatte keine Geschwister.«
»Klaus Emmerich war ein Waisenjunge, den eine reiche Kaufmannswitwe aus Barmherzigkeit aufgezogen hat. Woher sollte er wissen, ob er Geschwister hatte oder nicht? Vielleicht aber wusste er es doch und hat es allen verheimlicht, sogar seiner Gattin. Gründe dafür gibt es genug: Vielleicht aus Scham, weil der Zwillingsbruder ein Schweinehirte ist, da er nicht so viel Glück hatte wie er, sondern von einem Bauern aufgezogen wurde. Oder weil der andere auf die schiefe Bahn geraten war und nun als Straßenräuber sein Leben verwirkt hat. Oder …«, Rosa war jetzt richtig in Fahrt gekommen, »der Zwillingsbruder ist verrückt im Kopf, weil Vögel dort ihre Nester gebaut haben. Du hast doch auch einen Vogel.«
Jetzt sprang der Mann am Tisch auf und sagte gefährlich ruhig: »Und ich soll dieser verrückte Schweinehirte sein? Oder ein Strauchdieb und Halsabschneider?«
»Beweise mir, dass du es nicht bist«, erwiderte Rosa, indem sie alles auf eine Karte setzte.
»Nein, nein, nein«, sagte der Mann mit erhobenem Zeigefinger, »jetzt durchschaue ich dich. Du willst mich dahinbringen, dass ich dich losbinde und freilasse. Aber damit kannst du bei mir nicht landen. Ich lasse mich nicht zu unüberlegtem Verhalten hinreißen.«
Er setzte sich wieder und schaute Rosa interessiert an: »Kluges Kind, hätte nicht gedacht, dass die Tochter eines Gerbers so gerissen sein könnte. Aber mich kannst du nicht reinlegen.«
»Wenigstens versuchen muss man es.« Rosa lächelte ein wenig unbeholfen, um den Mann wieder günstig zu stimmen. Sie war heilfroh, dass der Mann nicht gewalttätig geworden war. Ihr Spiel war riskant gewesen. Es hätte aber klappen können.
»Trotzdem«, fuhr sie fort, »du bist Klaus Emmerichs Bruder und willst seinen Tod rächen. Da kannst du noch so viele Worte machen, um das zu verschleiern.«
»Mmh!« antwortete der Mann nur und drehte sich wieder seinen Schriftstücken zu.
»Und du kannst lesen, schreiben und rechnen«, ergänzte Rosa, »deshalb bist du weder ein Schweinehirte noch ein Strauchdieb.«
Ihre Rechnung ging auf. Dem Mann schien zu gefallen, was sie gesagt hatte.
»Du bist ein Kaufmann wie dein Bruder Klaus, nicht wahr? Habt ihr etwa zusammengearbeitet und durch eure große Ähnlichkeit so manchen geschickten Schachzug spielen können? Habt ihr vielleicht sogar andere Kaufleute hinters Licht geführt?«
Ohne sich umzudrehen, erwiderte der Mann: »Du bist ein kluges Kind, Rosa Münkoff. Das wird mich aber nicht daran hindern, dir später den Hals umzudrehen, dich hier verrotten zu lassen oder dich dem Henker als Hexe zu übergeben. Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit dir machen werde.«
»Mich einfach freilassen?«
»Oh, das könnte dir so passen. Damit du mich dann an den Büttel verpfeifst. Nein, dafür habe ich noch viel zu viel vor.«
»Ich muss mal«, sagte Rosa unvermittelt.
»Da hinten in der Ecke steht ein Kübel.«
»Den kann ich aber nicht erreichen.«
»Gut, dann will ich dich mal an die lange Leine nehmen.«
Der Mann erhob sich, ging zur Wand und löste den Strick. Er gab Rosa nur so viel Spiel, dass sie in die Ecke gehen und dort ihr Geschäft verrichten konnte. Der Mann schaute ihr dabei ungeniert zu. Dann zog er den Strick wieder so straff, dass sie ihre Arme über den Kopf halten musste und sich nicht von der Stelle bewegen konnte.
»Danke!« sagte sie.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte der
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