FreeBook Das Laecheln der Gerberstochter
Prophetenanspruch. Sie bezeichneten ihn als den Engel aus der Offenbarung, der mitten durch den Himmel fliegt und das Evangelium allen Menschen verkündet, als größten Propheten seit Johannes oder als Dritten Elia.
Johannes Lapäus berichtete sogar die Geschichte des Barfüßer-Mönches Johannes Hielten in Eisenach. Die Inquisitoren hatten ihn in den Kerker geworfen, weil er Missstände im Klosterleben angeprangert hatte. Kurz vor seinem Tod prophezeite er in seinem Kommentar über Daniel:
Es wird ein ander Mann kommen, wenn man schreibet M.D.X.V.J., der euch Mönche tilgen wird und der wird euch wohl bleiben, dem werdet ihr nicht widerstehen können.
Was hatte der Mönch prophezeit? Wenn man das Jahr 1515 schreiben werde, käme jemand, dem die Inquisition nichts anhaben könne?! Das war doch genau das Jahr, in dem Martin Luther in seinen Vorlesungen über den Römerbrief die Gerechtigkeit allein aus Gnade zu verkündigen begonnen hatte! Wahrscheinlich hatte er in dieser Zeit auch sein Turmerlebnis gehabt!
Fasziniert von all diesen Voraussagen las Anneliese weiter. Vergessen waren die Ereignisse im Dom, die Diskussionen über eine mögliche Belagerung der Stadt durch Tilly, und sogar Benno Greve kreiste ihr nicht mehr durch den Kopf.
Zuerst war der Reformator mit kräftigen Worten gegen das »Sauleben« der Deutschen, ihrem Geiz, ihrer Unzucht und Gewalttätigkeit zu Felde gezogen. Und auch gegen ihren »Saufteufel« – dieser höllischen, bis zum Ende der Welt bleibenden Plage. Danach schilderte er die Zukunft des Landes und der Welt. Der Glaube werde wieder von den Deutschen genommen, sodass man keinen rechten Prediger mehr finden werde.
Am Ende der Welt werde es schließlich so finster, dass die Gelehrten nichts mehr von Gott, Christus oder seinen Geboten wüssten. Die Leute würden deshalb wild und roh in den Tag hineinleben und behaupten, es gebe keinen Gott und keine Auferstehung der Toten. Das werde dem Fass den Boden ausstoßen!
»Puh!«, sagte Anneliese halblaut. »Das wird eine schlimme Zeit sein. Kein Glaube mehr an Gott, keine Hoffnung auf die Auferstehung der Toten? Nur ein kurzes Leben ohne Zukunft? Essen und trinken, arbeiten und Spaß haben, leiden und sterben, und dann nichts mehr? Keine Hoffnung haben? Kann man dann wirklich glücklich sein?«
Die Stimme von Benno Greve riss sie aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, öffnete die Tür und blickte die Treppe hinunter. Unten stand Benno und unterhielt sich mit ihrem Vater.
»Gut, wenn Sie jetzt keine Zeit haben, komme ich später noch einmal zu Ihnen«, hörte sie ihn sagen. »In zwei Stunden? Wäre Ihnen das recht?«
Ihr Vater nickte und verschwand im Lagerraum, in dem sich die Papierballen stapelten.
»Benno, wenn Sie Lust haben, können Sie so lange zu mir heraufkommen«, rief sie die Treppe hinunter.
Das Gesicht des jungen Mannes leuchtete auf.
»Aber gerne!«, rief er und nahm zwei Stufen auf einmal, während er die Treppe hinaufstieg. Er zog sein Barett, verbeugte sich galant vor ihr und sagte ein wenig atemlos: »Ihre Gesellschaft ist mir immer eine Freude.«
»Kommen Sie, ich lese gerade Martin Luthers Prophezeiungen über das Ende der Welt.«
»Luthers Prophezeiungen? Ich habe noch nie etwas darüber gehört.«
»Er hat sehr viel über die Zukunft geschrieben.«
»Interessant! Hat er denn Träume und Visionen gehabt?«, wollte Benno wissen. »Er war doch ein Gegner von Schwarmgeist und Träumerei.«
»Visionen? Nein, die hatte er nicht. Ich habe gelesen, ihm kämen seine Prophezeiungen, während er die Heilige Schrift studiert.«
»Aber muss ein Prophet nicht Visionen haben?«, fragte Benno weiter, während er hinter Anneliese die Hausbibliothek betrat.
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte diese, »schließlich bin ich keine Theologin. Aber Sie, Benno, fragen wie ein Advokat. Sie wollen alles immer genau wissen, Fakten studieren, handfeste Tatsachen auf den Tisch legen. Damit kann ich nicht dienen. Dafür jedoch mit ein paar dicken Büchern.«
Sie wies auf die aufgeschlagenen Folianten.
»Hier lesen Sie selbst, was Luther geschrieben hat.«
Benno beugte sich über das Werk von Johannes Lapäus und begann laut zu lesen:
Aber kommt es heut oder morgen, daß Deutschland im Blute schwimmen wird, so wirds wahr werden, was ich gesagt und gewarnet habe.
Ohne die Augen vom Buch zu nehmen, zog er einen Stuhl heran und las weiter:
Also habe ich oft gesagt: Es müsse Deutschland eine Plage übergehen. Die Fürsten und Herren
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