freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
Adelchi, achtunddreißig Jahre alt, aus Turin, vor dem Schreibtisch des
Kommissars Platz nahm. Adelchi war ein kleiner Mann, ausgesprochen elegant, von der Höhensonne gebräunt, mit akkurat gestutztem
Schnurrbart. Nachdem Giampieri eine vorläufige Aussage von ihm aufgenommen hatte, war er nach Hause entlassen worden, unter
der Auflage, |43| sich zur Verfügung zu halten. Adelchi hatte es vorgezogen, in Genua zu bleiben, um die Ermittlungen und die bürokratischen
Formalitäten aus der Nähe zu verfolgen und um »bei Tullio« zu sein. Seit sieben Jahren waren sie ein festes Gespann, aber
der Verlust des Freundes schien ihn nicht besonders mitgenommen zu haben. Er wirkte unterkühlt, wach, äußerst selbstsicher.
Auf den Internet- und Zeitungsseiten herrschte die Meinung vor, daß er Ferrettis Mann fürs Grobe war, derjenige, der im Bedarfsfall
hanebüchene Abseitsstellungen und Tore anzeigte. Er war fast genauso umstritten und verhaßt wie der Schiedsrichter selbst.
Bevor Luciani das Gespräch auf die Vorfälle im Marassi-Stadion brachte, ließ er sich erst einmal vom Beginn ihrer Laufbahnen
erzählen, wie sie sich kennengelernt hatten und Ähnliches. Er fragte, ob der Referee in letzter Zeit niedergeschlagen oder
bekümmert gewirkt habe, sein Gegenüber verneinte, so habe er ihn nie erlebt. Dann kam der Kommissar auf den Punkt zu sprechen,
der ihn interessierte.
»Und sagen Sie, weshalb zog Herr Ferretti sich nie mit den anderen gemeinsam um?«
»Nun, er hatte seine Gründe. Persönlicher Art.«
»Wir sind hier wie in einem Beichtstuhl, Herr Adelchi.«
»Sehen Sie, Herr Kommissar, er sagte, er müsse sich konzentrieren. Vielleicht auch beten. Ja, ich glaube, daß er auf ein besonderes
Ritual baute, das er vor jedem Spiel einhielt. Aber der wahre Grund … lachen Sie nicht, ich glaube, der wahre Grund war, daß
er sich schämte, wenn er sich vor anderen Männern umziehen mußte.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihn nie nackt gesehen haben?«
Adelchi schüttelte den Kopf: »Nein, nie.«
»In all den Jahren, die Sie gemeinsam … Das ist merkwürdig. Folglich zog er sich immer in einem separaten Raum um.«
|44| Auf Adelchis Gesicht erschien ein Anflug von Mitleid: »Ja, in den italienischen Stadien war das inzwischen bekannt, da hielt
man ihm stets einen Extraraum bereit, auch wenn er bisweilen so trist war wie hier in Genua. Aber Ferretti war alles recht,
solange er für sich sein konnte. Und wenn es diesen Raum einmal nicht gab, dann zogen wir uns nacheinander um, oder er kam
schon im Trainingsanzug, und nach dem Spiel zog er ihn gleich wieder über. Dann duschte er erst später, im Hotel.«
Interessantes Anschauungsmaterial für einen Psychologen, dachte Marco Luciani. Das konnte wichtige Hinweise auf Ferrettis
Persönlichkeit und womöglich sogar auf Selbstmordtendenzen liefern.
»Sie haben einen schwierigen Beruf. Ich meine die Linienrichter.«
Adelchi reckte das Kinn und blähte die Brust. »Viel schwieriger, als es aussieht, Herr Kommissar. Die Leute meinen, man muß
nur ein wenig herumstehen und ab und zu mit der Fahne fuchteln, wenn der Ball ins Seitenaus geht; das war’s dann. In Wahrheit
sind wir inzwischen vollwertige Schiedsrichter, wir tauschen uns mit dem Referee aus und können dafür sorgen, daß er seine
Entscheidungen revidiert. Auch wenn das letzte Wort natürlich immer er hat. Aber in vielen Situationen, beim Abseits zum Beispiel,
sehen wir viel besser.«
»Nicht immer, wenn man der Zeitlupe glauben darf.«
Adelchi schien diese Bemerkung nicht besonders zu schmecken.
»Nun gut, jeder kann sich einmal irren … Und dann sind auch nicht alle Kollegen gleich gut ausgebildet. Leider Gottes, das
sage ich ganz offen, wird diesbezüglich noch viel improvisiert. Manchmal stellt man die Schiedsrichter als Linienrichter ab
und bedenkt nicht, daß das ein völlig anderer Job ist. Wissen Sie was: Es ist für einen guten Linienrichter |45| einfacher, einen tadellosen Schiedsrichter abzugeben, als umgekehrt.«
Er wartete darauf, daß der Kommissar ihn nach dem Grund fragte. Marco Luciani tat ihm den Gefallen.
»Um einen guten Schiedsrichter abzugeben, reichen eine trainierte Lunge, gute Augen und eine ruhige Hand. Dieses Rüstzeug
haben auch wir. Aber wer Linienrichter sein will, der braucht die Augen eines Frosches, das Ohr des Dionysos und im Hirn einen
Fotoapparat.«
Der Kommissar hob die rechte Augenbraue.
»Sie glauben mir nicht? Sie
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