freeBook Kein Espresso fuer Commissario Luciani
und vor allem liebten sie Theorien über
Verschwörungen und Intrigen hinter den Kulissen. Auch er hätte seiner Phantasie gern freien Lauf gelassen, aber sein Beruf
verlangte eine andere Methodik. Luciani durfte sich einzig und allein auf Fakten stützen.
Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Termin beim Staatsanwalt. Der Kommissar hielt es für sinnlos, sich noch einmal schlafen
zu legen. Also nahm er all seine Willenskraft zusammen, zog T-Shirt und Shorts an und lief zum Porto Antico, wo er mindestens
eine Stunde joggen wollte. Er kam am Aquarium vorbei, dann an der Farnkugel und erreichte schließlich die schwimmende Insel,
wo ein Penner auf einer Bank schlief. Luciani kehrte um und bog rechts ab Richtung Piratengaleone. Der Kloakengestank war
an diesem Morgen unerträglich, und es amüsierte Marco Luciani, daß viele Bonzen Unsummen ausgegeben hatten, um sich eines
der rosa Häuser zu ergattern, die über dem stinkenden Hafen und den in den Wellen schaukelnden Exkrementen thronten. Er lief
bis zur Parodi-Brücke und zur neuen Fährstation, die man schon wieder aufgegeben hatte. Nach einer guten halben Stunde brach
er ab und machte sich auf den |67| Heimweg. Körper und Geist waren zu ausgelaugt, als daß sie das Training hätte erquicken können; Luciani mußte immerfort an
den Schiedsrichter denken, an den Linienrichter und das, was er dem Staatsanwalt sagen wollte.
Es gab inzwischen vieles, was Marco Luciani an seiner Arbeit mißfiel, am allermeisten aber haßte er die Rapporte an die Staatsanwaltschaft.
Es gab dort keinen Schreibtisch, hinter dem nicht haarsträubende politische Ränke geschmiedet wurden, jeder hatte seine Leiche
im Keller, seine vorschnell geschlossene Akte im Schrank. Aus jedem Zeitungsinterview konnte man Ambitionen, Machtkämpfe und
Dutzende versteckter Botschaften herauslesen. Man wußte nie, ob sie die Wahrheit oder den Anschein von Wahrheit wollten, das
heißt eine allgemein vertretbare Wahrheit, die ihnen für die eigene Karriere opportun schien. Im Grunde sind sie auch nicht
anders als die Schiedsrichter, dachte er mit einem Anflug von Grauen.
Punkt neun betrat er Doktor Delrios Büro. Der junge Staatsanwalt stand neben seinem Schreibtisch, trat auf Luciani zu und
drückte ihm die Hand. Der günstige Eindruck, den der Kommissar bei der ersten Begegnung gewonnen hatte, bestätigte sich. Mit
seiner Gelehrtenbrille und seiner langen, bedrohlich spitzen Nase sah Delrio zwar ein wenig nach Klassenprimus aus, doch sein
Lächeln wirkte entspannt, weder schüchtern noch anmaßend. An Delrios Schreibtisch saß Oberstaatsanwalt Umberto Angelini, der
lediglich ein unterkühltes »Buongiorno« – mit seinem grauenvollen Gaumen-R – für den Kommissar übrig hatte, ohne seinen weißen,
frisch frisierten Schädel auch nur einen Millimeter von der Rückenlehne abzuheben. Marco Luciani übersah dies geflissentlich;
unter anderen Umständen hätte er mit derselben Arroganz geantwortet, aber in diesem Fall wollte er behutsam vorgehen, sich
keine Blöße geben. Er |68| war entschlossen, alles zu schlucken und erst ganz am Ende, nach Lösung des Falles, wieder auszuspucken.
Die Unterredung verlief genau wie erwartet: Der Oberstaatsanwalt gab zu verstehen, wie irritiert er von Lucianis zögerlicher
Informationspolitik sei, und erinnerte ihn ohne Umschweife daran, daß die Leitung der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
obliege und daß das Vertrauen, das man bisher in Lucianis Fähigkeiten als Ermittler gesetzt habe, nicht als Freifahrschein
zur Anarchie genutzt werden dürfe. »Mit Ihrem Verhalten, Herr Kommissar, bringen Sie einen jungen, aufstrebenden Staatsanwalt
in die Bredouille«, sagte er, wobei er Kinn und Hakennase gen Himmel reckte.
Delrio versuchte zu beschwichtigen, er merkte an, daß der Kommissar viele schwierige Fälle gelöst habe und man sicher gut
zusammenarbeiten werde.
Marco Luciani hatte die vorläufigen Ermittlungsakten mitgebracht, und ihm schien der Moment gekommen, die ungeklärten Aspekte
der Affäre zu erläutern. Als er zu den größten Ungereimtheiten kam – der abgeschlossenen Tür, dem verschwundenen Kugelschreiber
–, stellte Delrio zwei oder drei Fragen, aber gleich fiel ihnen der Oberstaatsanwalt ins Wort.
»Wir werden die Akte sorgfältig durcharbeiten, Herr Kommissar«, sagte Angelini, »im Moment ist es sinnlos, sich mit Details
aufzuhalten. Doktor Delrio wird natürlich Ihr direkter
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