freeBooks Thor - Die Asgard-Saga Roman
ließ diese Tage jedoch nicht ungenutzt verstreichen. Obwohl er sich hütete, sich in mehr als eine oberflächliche Unterhaltung verwickeln zu lassen, hatte er sich am Ende des vierten Tages bereits einen guten Überblick über Oesengard verschafft. Die Stadt war mit ihren mehr als tausend Einwohnernnicht nur die größte Ansiedlung, von der er je gehört hatte, sondern musste auch sehr alt sein. Die meisten ihrer einfachen Häuser waren auf den Fundamenten sehr viel älterer und ungleich prachtvollerer Gebäude errichtet worden, und wenn man genauer hinsah, erblickte man sogar noch Reste dieser alten Größe: hier ein Mauerrest, dort ein Giebel, ein stehen gebliebener Pfeiler oder ein gemeißelter Türsturz von einer Kunstfertigkeit, wie sie die jetzigen Bewohner dieser Stadt niemals gehabt hatten. Auch war die Stadt – die ursprüngliche Stadt – nach einem Plan angelegt, den seine jetzigen Bewohner vermutlich nicht einmal erkannten, den der Krieger in ihm jedoch schon am ersten Tag sah: Oesengard mochte eine Stadt der Händler und Viehzüchter sein, aber die Stadt, die einstmals hier gestanden hatte, war eine Festung gewesen, und auch dieser schwache Abglanz ihrer einstigen Größe war es noch. Eine zusätzliche Mauer hier, ein paar verschlossene Fenster dort und die eine oder andere zugemauerte Straße, und die bloße Anlage der Stadt würde es selbst einem deutlich überlegenen Angreifer sehr schwer machen, sie einzunehmen.
Er sah Urd und die Kinder auch am fünften Tag nicht wieder. Zwei- oder dreimal bat er Gundri darum, ihn zu ihnen zu bringen, bekam aber nur die Antwort, die unbekannte Fremde hätte die Stadt zusammen mit ihren beiden Kindern schon am nächsten Morgen wieder verlassen, und gab sich wohl oder übel damit zufrieden.
Als er sich am Abend des sechsten Tages müde in der Schänke einfand und auf seinen Lohn wartete – der aus einem Abendessen und einem Krug Met bestand, von dem Thor mittlerweile argwöhnte, dass Sjöblom ihn aus den Resten des vergangenen Abends zusammenschüttete –, gesellte sich der Wirt zu ihm und goss sich uneingeladen aus seinem Krug ein. Thor sagte nichts dazu, zog aber demonstrativ die linke Augenbraue hoch. Wenn ihm inzwischen eines wirklich klar geworden war, dann dass Sjöbloms vermeintliche Großzügigkeit durchaus etwas Berechnendes hatte. Sjöblom griente jedoch nur noch breiter und trank schlürfend einen besonders großen Schluck.
»Wie hat dir die Arbeit heute gefallen?«, fragte er.
»Welchen Teil davon meinst du?«, entgegnete Thor missgelaunt. »Die Fischfässer, die ich umgefüllt habe, oder die Tierkadaver, die ich wegschaffen musste?«
Sjöblom griente. »Die Arbeit schmeckt dir nicht.«
»Nicht so gut wie der Braten deiner Frau«, antwortete Thor wahrheitsgemäß.
»Dabei scheint sie dir wirklich gut zu bekommen«, beharrte Sjöblom – was nun ganz und gar nicht der Wahrheit entsprach. Davon abgesehen, dass er sich gründlich Hände und Gesicht säuberte, wenn er von einer seiner unappetitlichen Beschäftigungen zurückkam, hatte er seine äußere Erscheinung ganz bewusst vernachlässigt. Seine Kleider waren schmutzig und rochen nicht besonders gut, und sein Haar war jetzt strähnig und sah auf den ersten Blick eher rotbraun aus als blond. Außerdem achtete er darauf, die Schultern hängen zu lassen und eher gebückt zu schlurfen, als zu gehen, und zwei- oder dreimal hatte er eine Last sogar demonstrativ fallen lassen, als wäre sie ihm zu schwer. Niemand, der ihn auch nur flüchtig kannte, würde sich von diesem Mummenschanz täuschen lassen, aber wer nach einem hünenhaften blonden Krieger Ausschau hielt, würde so rasch auch nicht auf ihn kommen.
Sjöblom deutete sein Schweigen falsch, zog eine Grimasse und trank einen weiteren Schluck. Nicht dass es nötig gewesen wäre. Seine Zunge war schon wieder schwer und sein Blick vielleicht noch nicht wirklich trüb, aber auch nicht mehr ganz klar. Gundri hatte recht mit dem gehabt, was sie am ersten Tag über ihren Vater gesagt hatte. Wenn Thor es recht bedachte, dann hatte er den Fettwanst noch nie wirklich nüchtern erlebt, sondern immer nur in unterschiedlichen Graden der Trunkenheit.
»Andrerseits schlägst du dich gut«, fuhr Sjöblom fort. »Besser als die meisten vor dir.«
»Vor mir?«
»Morgen läuft ein Schiff ein. Das erste in diesem Jahr«, sagte Sjöblom, ohne auf seine Worte einzugehen. »Es wird ein großes Fest geben. Das gibt es immer, wenn das erste Schiff nach demWinter
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