Freiheit für Cyador
der aus dem Verwunschenen Wald aufsteigt, geht er am Wachposten vorbei und zur Granitmauer. Er trägt zwar seine Waffen bei sich – einen Säbel, der einem der toten Lanzenkämpfer gehört hat, und eine Feuerlanze –, aber er weiß, dass er beides nicht brauchen wird und zweifelt doch gleichzeitig daran.
Er nähert sich der Mauer; sie wirkt trotz des Taus, der Straße und Erde benetzt, trocken und glatt in der Morgendämmerung. Lorn kann fühlen, wo der Chaos-Fluss endet, etwa einhundertfünfzig Ellen links von ihm an der letzten funktionstüchtigen Sperre. Ohne die lodernden Chaos-Netze spürt Lorn deutlich die Tiefe vom Ordnungs-Chaos des Verwunschenen Waldes; die festen Granitwände allein wirken nur allzu zerbrechlich gegenüber der Größe und Macht der ineinander verflochtenen Ordnungs- und Chaos-Kräfte.
Lorn senkt den Kopf und ruft sich die Worte in Erinnerung, die er während der Magierausbildung so oft gehört hat. »Der Wald wurde immer nur Ordnungs-Tod genannt … Niemand erwähnte, dass Ordnung und Chaos hier ineinander verflochten sind«, murmelt er. Mit Chaos-Ordnungs-Sinnen und Augen betrachtet er nun den Wald und er hat sich nicht geirrt. Diese Bäume besitzen eine tiefe Ordnung, die in Chaos gepackt ist – oder auch Chaos, das in Ordnung gehüllt ist.
Trotz der Lücke im Chaos-Netz fühlt Lorn weder Anzeichen von Ordnung noch von Chaos und kein einziges Wesen hält sich unmittelbar hinter dem Granit auf. Allmählich geht die Sonne über dem Ödland und den Feldern zu seiner Linken auf, die stille Gegenwart und gleichzeitige Abwesenheit von offener Bedrohung verändert sich nicht. Als das erste Sonnenlicht auf Lorns Schulter fällt, macht er sich langsam auf den Weg zurück ins Lager.
Olisenn wartet bei den Pferden bereits auf ihn und sieht so ungepflegt aus, wie Lorn sich fühlt. »Ihr wart an der Mauer, Ser, sie ist dort nicht geschützt. War das klug, Hauptmann?«
»Wahrscheinlich nicht.« Lorn lacht. »Ich werde es aber noch lernen, ganz sicher, Olisenn.« Er hält inne, als Kusyl auf sie zukommt. »Guten Morgen, Kusyl.«
»Guten Morgen, Ser.«
»Ich habe mich bei den Wachen erkundigt, bevor ich gegangen bin.« Lorn sieht Kusyl an. »Ich habe heute Morgen die Sperrenmauer inspiziert. Es war die ganze Nacht ruhig.«
»Vielleicht kommen sie ja jetzt am Morgen wieder«, erlaubt sich der Untertruppenführer zu bemerken.
»Vielleicht«, stimmt Lorn zu und sieht Olisenn an. »Wie lange wird es noch dauern, bis die Ingenieure eintreffen?«
»Mit ihren Feuerwagen kommen sie auf der äußeren Straße schnell voran, ich würde sagen, sie erreichen uns gegen Mittag – wenn sie noch gestern Abend oder heute am frühen Morgen aufgebrochen sind.«
Lorn nickt. »Wir sollten Wachposten aufstellen, ich würde vorschlagen, vier aus jeder Einheit. Sie dürfen die Feuerlanzen nur zu ihrem Schutz gebrauchen. Wir werden selbst keine Angriffe starten.« Er lächelt trocken. »Dafür haben wir nicht die nötige Munition.«
»Nein, Ser, die haben wir nicht«, stimmt Kusyl zu.
Olisenn runzelt zwar die Stirn, aber auch er nickt zustimmend.
»Ich suche mir ein paar Männer und reite noch einmal um die Baumkrone herum.« Lorn bindet den Wallach los. »Wen soll ich mitnehmen?«
»Wen ihr wollt, Ser.«
Lorn wählt einfach vier Männer aus und überprüft Sattelgurt und Zaumzeug, bevor er aufsteigt. Zusammen mit vier Lanzenkämpfern reitet er langsam um das Gewirr aus verhedderten Ästen und zerstörten Blättern herum, das einst die Krone des mächtigen Baumes bildete. Sie umkreisen den unordentlichen Hügel in einer Entfernung von weit über zweihundert Ellen. Man hört es zuweilen rascheln, und plötzlich fliegt eine Schar Vögel, einschließlich zweier großer Aaskrähen, aus den Ästen; andere Tiere sind jedoch nicht auszumachen. An der nordwestlichen Seite des Stammes zerren ein Dutzend Aaskrähen am Kadaver der Wasserechse, aber die Vögel heben kaum ihre hakenförmigen Schnäbel. Zwei Nachtleoparden schleichen zurück in die Blätter, als sich die Reiter der toten Kreatur nähern.
Nachdem Lorn den Kampfplatz noch einmal inspiziert und festgestellt hat, dass von seinem Säbel nichts zu sehen ist und auch nicht von anderen Tieren aus dem Wald, nimmt er den Wallach herum. »Wir reiten zurück.«
Auf dem Weg zurück zur Zweiten Kompanie raschelt es immer noch in den Blättern. Es zeigt sich jedoch kein weiteres Tier, außer einigen Vögeln, die Lorn nicht zu bestimmen vermag; aber schließlich hat er
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