Freiheit für Cyador
Gedichtbandes und weiß, dass dieser dem Major ein Rätsel aufgeben wird.
Als die Chaos-Kälte abgeklungen ist, öffnet Lorn schließlich das Buch. Er sucht eine Seite, die er schon kennt. Eine Seite, die Ryalth für ihn vor vielen Jahren aussuchte und deren Worte sich vertraut anfühlen trotz der altertümlich schrägen Buchstaben, der Anspielungen und des Stils, dessen der altehrwürdige Dichter sich bedient hat.
SOLL ICH MICH DER RATIONALEN STERNE ERINNERN?
Dort besaß ich einen Turm im Himmel,
die Räume klar und weit …
Soll ich mich der Rationalen Sterne erinnern?
Oder an der Ruine auf diesem Hügel festhalten,
wo neue Mauern reglos walten,
vortrefflicher Granit in die Dämmerung ragt und Sonnendächer die Straßen schmücken.
Lorn grübelt eine Weile über die letzten Zeilen nach, dann liest er sie noch einmal mit gedämpfter Stimme in der Stille seiner Kammer laut vor.
Oh … nimm die neuen Inseln im See und die grünen
Meere;
nimm die Teiche und hohen Bäume,
nimm die Wüstendünen und den sonnendurchfluteten
Sand und lass alles durch deine leeren Hände rieseln.
Bei diesen Worten kommen in ihm beinahe die gleichen Gefühle auf, wie sie der Verwunschene Wald mit seinen Bildern hervorzurufen vermag. Oder sind es seine eigenen Bilder – geschaffen in seinem Kopf von einer anderen Macht als dem Wald?
Lorn schlägt das dünne silberne Buch zu und schüttelt nachdenklich den Kopf. Er steht auf, legt den Band zurück in den Schrank und zieht sich ganz aus. Die Worte des ehrwürdigen Verfassers und die Traurigkeit, die darin mitschwebt, nehmen ihn völlig in Besitz.
Soll ich mich der Rationalen Sterne erinnern?
XXXII
O bwohl Lorn eigentlich mehr Baumstürze erwartet hat, gewissermaßen als Antwort auf seine ›Übungen‹ an der Sperrenmauer, gab es bei den letzten beiden Patrouillen seit Shynts Ankunft keinen einzigen Vorfall. Zurückgeblieben aus den Nächten an der Sperrenmauer ist nur eine gelegentliche Traurigkeit, die Lorn verspürt, wenn er über die weiße Granitmauer auf die hoch gewachsenen Stämme und das grüne Blätterdach des Verwunschenen Waldes bückt. Auch hat Lorn noch einmal von den brennenden Mauern geträumt und von Flüssen, die aus ihrem gewohnten Lauf verdrängt werden.
Der Lanzenkämpferhauptmann versucht verzweifelt diese Gedanken zu verdrängen, während er am zweiten Patrouillentag mit Untertruppenführer Shynt an der Sperrenmauer entlang reitet. Seine Augen wandern hin und her zwischen Sperrenmauer“ Verwunschenem Wald und den Granitsteinen der Straße. Wie immer hat der Wald hinter der Mauer sein Blätterwerk auch nach Einzug des Winters mit seinen kalten Winden behalten. Lorn wird erneut an die Unterschiede vor und hinter der Mauer erinnert, das letzte Summen einer Blumenfliege verstummt im Chaos-Netz.
Er fragt sich, wie lange es wohl noch dauern wird, bis sie wieder einen umgestürzten Baum zu Gesicht bekommen und bis Major Maran erneut in Jakaafra auftaucht und unter welchem Vorwand. Lorn grübelt auch darüber nach, wie er sein Versprechen Ryalth gegenüber einlösen kann. Und das auf eine Weise, die einer richtigen Ehe gerecht wird und gleichzeitig Ryalth mehr schützt als gefährdet. Außerdem muss er seine Fähigkeiten, Chaos und Ordnung zu steuern, noch verbessern. Seine Lanzenkämpfer dürfen jedoch nicht wissen, was er da tut. Das ist ein Grund, warum er zwei Feuerlanzen in einem speziell dafür umgebauten Lanzenköcher bei sich trägt. Er lächelt bei diesem Gedanken, denn niemand, nicht einmal Kusyl, hat ihn nach den zwei Lanzen gefragt.
»Kalt und feucht heute, Ser, vielleicht wird es sogar noch nässer«, meint Shynt.
»Kälter glaube ich schon, aber nicht nässer.« Lorn fühlt mit einem Mal Unregelmäßigkeiten im Chaos-Netz und im Fluss der Chaos-Kräfte entlang der Mauer, aber er sagt nichts, beobachtet nur weiter den Granit, während die Lanzenkämpfer weiter nach Südosten reiten.
Der Vormittag hat noch nicht richtig angefangen, als Lorn plötzlich deutlich fühlt, was er schon vorher geahnt hat. Kurze Zeit später ruft auch schon ein Lanzenkämpfer: »Gefallener Baum voraus, Ser!«
»Shynt, die Männer sollen sich in Fünferreihen aufstellen und hinaus zur Perimeterstraße reiten«, ordnet Lorn an.
»Ja, Ser.«
Lorn lenkt den Wallach über die feuchte, jedoch noch nicht schlammige Erde des Ödlands. Er und die Erste Einheit überqueren einen Boden, der zuerst nur schwach nach Hafenwasser riecht, doch mit
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