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Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom

Titel: Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayse Auth
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kaltblütig einen
Menschen umgebracht hat. Wie dem auch sei, ein Mann wird getroffen und liegt in seinem Blut.
    Hasserfüllt, rachedurstig geht die Menge auf Ali los. Es ist aktenkundig, dass sich dabei besonders die Frauen hervortaten. Und dass mein Großvater sich kaum noch gewehrt, geschweige denn, dass er nochmals geschossen hat. Ich kann mir nur denken, dass er selbst entsetzt und starr vor Schreck war. So kommt es innerhalb weniger Minuten zum Blutbad. Fünf, sechs Frauen zerren Ali vom Pferd und gehen mit ihrem Feldgerät auf ihn los. Mit Hacken und Spaten erschlagen und verstümmeln sie ihn.
    Auch der Angeschossene stirbt ein paar Tage darauf im Krankenhaus. Aber die Tragödie ist damit längst nicht zu Ende. Nun folgt der nächste Akt.
    Wir stehen noch fassungslos auf dem Hof, Opa Ali wurde mittlerweile ins Haus gebracht. Von dort hört man das Wimmern und Klagen seiner Witwe. Da erscheint ein Onkel, Sohn Alis und Babannes. Er ist 22 Jahre alt, gerade aus dem Militärdienst entlassen. Heißblütig und schon Manns genug, um den Regeln der Blutrache Geltung zu verschaffen. Niemand fordert ihn dazu auf, niemand aber auch hält ihn zurück. Er macht nicht viel Federlesens. Geht in sein Haus, holt seine Pistole und läuft zu dem Feld, auf dem die Tat geschehen ist. Dort findet er einen Mann aus der anderen Familie bei der Feldarbeit vor. Er erschießt ihn auf der Stelle.
    Wir Kinder haben dieses Nachspiel nicht mitbekommen, sehen nur plötzlich bewaffnete Gendarmen in der Tür. Der Onkel ist vorbereitet. Er lässt sich ohne Gegenwehr Handschellen anlegen und wird abgeführt. Erhobenen
Hauptes schreitet er das Spalier der Schaulustigen ab. Später wird er der Polizei gegenüber die Tat gestehen, ohne eine Spur von Reue zu zeigen. Er hat getan, was getan werden musste, dessen ist er sich sicher. Er hat die Ehre der Familie gerettet! Es half ihm nichts, viele Jahre lang musste er dafür im Gefängnis sitzen.
     
     
    Zwischenbemerkung: Manchmal werde ich gefragt, was denn der markanteste Unterschied sei zwischen dem Leben dort in der Türkei und dem hier in Deutschland. Meine Antwort ist einfach: Man feiert dort ganz anders als hier. Natürlich ist das nicht der einzige Unterschied und nicht einmal der gravierendste. Aber er ist ziemlich aussagestark, wie ich finde.
    Also feiert der heißblütige Orientale ausgelassener als der temperierte Mitteleuropäer? Nein, so ist es nicht. In meiner Heimat feiert man, wie soll ich sagen: irgendwie »ganzheitlicher«. Dort liegt in jeder ausgelassenen Fröhlichkeit immer auch ein feierlicher Ernst. Und bei jedem ernsten Anlass schwingt eine sublime Freude mit. So ist es im Ramadan, der tagsüber die strenge, nach Sonnenuntergang jedoch die heitere, lebenslustige Seite des Menschseins feiert. Und so ist es auch bei einem Begräbnis. Ja, angesichts des Todes wird bei uns sozusagen das Leben mitgefeiert.
     
     
    Drei Tote an einem einzigen Tag. Ganz Susurluk trug Trauer. Die Anteilnahme galt beiden Familien, und auch die Trauerfeier in der großen Moschee wurde für alle drei Getöteten gemeinsam abgehalten. Das war nicht nur eine große
Geste der Gemeinschaft, so übte sie auch spürbaren Druck auf die letzten noch verbliebenen Hitzköpfe der beiden feindlichen Familien aus. Sie sollten, dies war die Botschaft ganz Susurluks an sie, nicht nur ihre Toten, sondern auch ihren Hass begraben. Und wirklich gab es danach keine weiteren Opfer.
    Es folgte eine schier endlose Serie von Gebetsstunden. 40 Tage lang dauerten die Trauerzeremonien. Nicht nur meine Oma war so lange nicht zu beruhigen, mit ihr weinten und jammerten nach Kräften alle Frauen des Dorfes. Immer wieder kam der Hotscha in unser Haus und hielt Andachten ab. Stets versammelten sich dabei die Klageweiber des Dorfes, um zu beten, zu weinen und zu jammern.
    Und zwischendurch wurde ständig gegessen! Das ist es, woran ich mich am besten erinnere: In jenen Wochen wurden in unserem Haus Unmengen von Nahrungsmitteln gekocht - nicht nur für uns, sondern vor allem auch für die vielen Gäste. Tonnenweise gab es zu essen, und der Hotscha aß am meisten, wie ich staunend bemerkte. Vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil er von allen Außenstehenden am häufigsten und längsten da war, aber ich erinnere mich sehr gut daran, wie er nicht nur immer mit den anderen aß, sondern zwischen den Gebeten sogar für sich allein, in unserem Schlafzimmer. Nun, ich habe mir sagen lassen, als in Deutschland der Dorfpfarrer noch von den

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