Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
sage dir: Die meisten Menschen beten immer dasselbe, obwohl es für sie jedes Mal um etwas anderes geht.«
Da war ich aber neugierig.
»Nun, die Mutter aller Gebete besteht nur aus ein paar Worten. Diese Worte sind es, die Allah immer hört, wenn gewöhnliche Menschen beten. Egal, welche Bitten ihnen dabei auch aus dem Munde kommen mögen.«
Die lange Pause, die sie jetzt einlegte, ließ es nun wirklich ziemlich spannend werden!
»Das Gebet gewöhnlicher Menschen lautet in den Ohren Allahs stets nur: ›O großer Gott, mach bitte für mich, dass zwei und zwei nicht vier sind. Nur dieses eine Mal - bitte, bitte, o Allah.‹«
Ich verstand nicht. Noch nicht, damals. Und sie fuhr fort:
»Ayşe, wenn ich für euch beide zu Allah bete, dann bete ich auch immer darum, dass ihr richtig beten lernt. Nicht nur so, wie gewöhnliche Menschen es tun.«
Sprach’s, stand auf und ging wieder ins Haus. Wahrscheinlich, um sich erst mal »auszubeten«, nach einem langen Tag im Dienste gewöhnlicher Sterblicher.
»Arife tut viel für die Menschen, sie muss das tun«. Erklärte uns Recep Dayi , unser Onkel Recep. Ihr Bruder war der einzige, dem sie nach dem Tod ihres Mannes wirklich vertraute. Seit seine Schwester verwitwet war, besuchte er sie regelmäßig. Wenn er kam, wussten wir, dass uns ein guter Tag bevorstand. Der Onkel kümmerte sich um das Notwendigste im Haus, er übernahm Reparaturen und Besorgungen. Vor allem aber hatte er ein offenes Ohr für Arife. Endlich konnte auch sie einmal jemandem ihr Herz ausschütten.
Für uns waren die Tage mit Onkel Recep wirkliche Lichtblicke in der dunklen Zeit nach Opas Tod. Er wurde definitiv unser Lieblingsonkel. Wie ich es genoss, wenn er mich in den Arm nahm und mit mir sprach. Ein Erwachsener, der sich für mich interessierte! Das musste ich ausnutzen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit setzte ich mich auf seinen Schoß und schmiegte mich an seine breite Brust. Ich durfte sogar seinen langen weißen Bart anfassen und zu kleinen Zöpfen flechten. Er war ein so liebevoller Mann.
Bei einer unserer Schmusestunden, ich war vielleicht gerade sechs Jahre alt, kam er auf unsere Oma zu sprechen. Offenbar wollte er, dass Hati und ich verstehen, warum sie so gut zu anderen Menschen war.
»Sie macht das nicht aus eigener Entscheidung, sondern weil Gott zu ihr gesprochen hat.«
Ich muss kreidebleich vor Angst geworden sein.
»Allah selbst hat mit unserer Oma gesprochen? Kann er denn mit Menschen sprechen?«
»Das kann er auf jeden Fall, er ist doch allmächtig.«
»Und warum spricht er mit der Oma?«
»Gott spricht zu allen Menschen, aber nur die wenigsten verstehen ihn. Babanne kann seine Stimme hören und begreift, was er sagt. Sie ist ein ganz besonderer Mensch. Deshalb hat Allah ihr den Auftrag erteilt, anderen Leuten zu helfen.«
Mir wurde leicht schwindlig. Gott persönlich sprach mit meiner Oma! Vielleicht könnte ich so eine Unterhaltung ja einmal mitbekommen? Immerhin schliefen wir ja zusammen in einem Zimmer. Würde Gott dann womöglich auch zu mir sprechen? Was er wohl für eine Stimme haben mochte …
Obwohl mir die Sache unheimlich vorkam, interessierte sie mich doch brennend. Zu gern hätte ich mehr über Babannes Gespräche mit Gott erfahren. Wenn sie Onkel Recep davon erzählt hatte, würde sie ihm vielleicht bei der nächsten Unterhaltung einige Einzelheiten verraten! Also verkroch ich mich bei passender Gelegenheit unter dem Tisch in der Laube, der von einer bis zum Boden reichenden Tischdecke bedeckt war, unter der man mich nicht sah. Da kamen sie schon, um sich beim Tee zu unterhalten, wie immer vor der Abendvesper.
Sie redeten … in einer mir völlig unbekannten Sprache! Ganz anders als das Türkische, nicht so weich mit Zunge und Gaumen gesprochen, sondern kehliger, aus dem Hals heraus, und ganz ohne Üs und Ös … Ich erschauderte. Die Sprache Gottes!?!
Ich wusste damals noch nichts über die Geschichte unserer Familie. Während der Ausdehnung des Osmanischen Reiches nach Westen hin waren Babannes Vorfahren ausgewandert und hatten sich im Sandschak, dem Land der Bosniaken, niedergelassen. Neben ihrer türkischen Muttersprache benutzten sie dort im Alltag auch das Štokavische, einen serbokroatischen Dialekt mit türkischen und arabischen Lehnwörtern.
Drei Generationen zuvor, als die Herrschaft der Türken im Sandschak endete, kehrten sie, wohlhabend geworden, in die Heimat zurück. Das Štokavische aber blieb noch bis in die Generation Babannes
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