Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
frommen Gaben seiner Gemeinde lebte, da war auch er regelmäßig die beleibteste Person weit und breit.
Natürlich wurde in diesen Tagen auch viel über unseren Onkel im Gefängnis gesprochen. Ich kann mich sogar noch recht gut an einige der Aussagen und Diskussionen
erinnern. Es gab sehr wohl auch nachdenkliche Stimmen über sein Vorgehen in unserer Familie. Man sprach davon, dass man mit so einer Tat niemandem nützt und allen nur schadet.
Hati und ich verkrochen uns, so oft es ging, in irgendeiner Ecke und beobachteten alles, ohne uns zu mucksen. Keiner half uns, die Ungeheuerlichkeit, die hier geschehen war, auf irgendeine Weise zu verarbeiten.
Die Sprache Gottes ist Štokavisch
M it Opa Ali war auch ein großer Teil der Freude von uns gegangen, die es in unserem Alltag bisher noch gegeben hatte. Unser Haus, so klein und eng es war, schien plötzlich ganz leer geworden zu sein. Jetzt war gar keiner mehr da, der mit uns spielte. Großmutter schien großen Schmerz in sich zu tragen, denn sie zog sich zunehmend auf sich selbst zurück. Sollte sie ihren fügsamen Ali doch mehr geliebt haben, als sie zu erkennen gegeben hatte? Über 50 Jahre war er an ihrer Seite gewesen, hatte stets zu ihr gehalten und seine Nebenrolle gelassen ertragen. Im Alter von 72 Jahren stand sie nun mit zwei noch nicht einmal schulpflichtigen Mädchen ganz allein da.
Wie schon erwähnt, ist es ein Grundstein türkischen Familienlebens, den Alten einen Lebensabend im Schutze der Sippe zu ermöglichen. Das funktioniert allerdings nur so lange, wie die Großfamilie ihre Bindungskräfte bewahrt und die erwerbstätige Generation nicht in alle Winde zerstreut ist. Das aber war bei meiner eigenen Familie mehr oder weniger der Fall: Meine Onkel und Tanten lebten, jeder für sich, an anderen Orten, einige sogar im entfernten Deutschland. Den Familienbesitz hatte man schon vor Jahren verpachtet oder verkauft, was Babanne und Ali zwar ein auskömmliches Leben bescherte, sie im Alltag aber doch auf sich allein gestellt sein ließ.
Großmutter hatte nun also niemanden mehr um sich - außer uns. Und es wurde immer deutlicher, dass zwei kleine Kinder einer alten Frau doch nicht die Familie ersetzen können. Damit will ich nicht sagen, dass wir ihr gleichgültig wurden. Im Gegenteil, die Anzahl der Gebote und Verbote, mit denen sie unser Leben in die richtigen Bahnen zu lenken trachtete, stieg eher noch. Doch was ihre innere Beziehung zu uns betraf, so entstand nun ein Vakuum, das sich erst ganz allmählich wieder zu füllen begann.
Sie brauchte allerdings nicht lange zu suchen, bis sie etwas fand, das ihr, wenn schon nicht Ausgeglichenheit und inneren Frieden, so doch ständige Beschäftigung und Ablenkung verschaffte: Sie intensivierte ihre spirituellen Dienstleistungen für die Allgemeinheit jetzt ganz erheblich. In der Tat bestand dafür ein nie ganz zu stillender Bedarf, und so wuchs der Publikumsverkehr in unserem Hause gewaltig an. Von klein auf waren wir ja einiges gewöhnt, aber was nun folgte, stellte alles Bisherige in den Schatten. Nach Garaj und Kahwes avancierte unser Zuhause zum wohl meistfrequentierten Ort von Susurkuk und Umgebung. Alle wollten in unser Wohnschlafzimmer, das nun endgültig zum Behandlungsraum einer Geistheilerin umfunktioniert wurde. Im Schneidersitz saß Babanne auf ihrem Bett wie auf einem Thron, trotz ihres Alters kerzengerade aufgerichtet, und ließ einen nach dem anderen vorsprechen.
Als Wartezimmer hatte vordem nur die Küche gedient. Doch in dem Maße, wie sich herumsprach, dass die Ahretanne bei ihren täglichen Sprechstunden niemanden, aber auch wirklich niemanden abwies, und sei sein Anliegen
noch so banal oder noch so sonderbar, füllte sich zunehmend auch der Hof mit Menschen. Geduldig warteten sie dort, um irgendwann in die Küche vorzurücken und schließlich zur Vier-Augen-Audienz ins Heiligtum vorgelassen zu werden. Aber damit nicht genug. Auf dem Höhepunkt des Wirkens unserer Oma mussten die später Eintreffenden zunächst mit einem Platz im gegenüberliegenden Kahwe vorliebnehmen. Von dort aus fädelten sie sich dann in die Warteschlange auf der anderen Seite der Straße ein.
Ein Erlebnis, das mich damals sehr verblüffte, erschloss sich mir in seiner vollen Bedeutung erst sehr viel später. Ich war zum Spielen bei meiner Freundin Leyla, der Tochter vom Besitzer des Kahwes , und klagte ihr mein Leid.
»Weißt du, Babanne hat jetzt immer so viel zu tun, dass sie praktisch gar nicht mehr kocht. Im
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