Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
liebsten mit dem Leben abgeschlossen hätte. Denn die Angst beschützt uns auch vor dem Tod. Um aber nicht am ganzen Körper zitternd in die Sprechstunde zu kommen, tat ich etwas, das mir in den zahlreichen Alles-oder-nichts-Situationen meines Lebens zur zweiten Natur geworden ist: Ich stellte meine Gefühle ab. Wie auf Knopfdruck.
Und am Tag des Termins funktioniere ich wie ein Automat: Mechanisch lenke ich meine Schritte in die nephrologische Abteilung, schütte ohne mit der Wimper zu zucken das widerlich schmeckende Kontrastmittel in mich hinein und lasse mich in die Röhre des Computertomographen schieben. In mir ist alles ausgeknipst. Die Fähigkeit, in größter Angst den inneren Autopiloten zu aktivieren, hat mich seit meiner frühen Jugend die schlimmsten Situationen überstehen lassen. Ich funktioniere in solchen Augenblicken wie ein Mensch im Krieg. Am Morgen nach dem Bombenangriff geht er seelenruhig auf die Straße, um etwas zum Essen zu besorgen.
Heute muss ich nur noch alle drei Jahre zum Durchchecken. Ich habe jedes Mal wieder Angst. Aber etwas ist doch anders: Ich lasse meine Gefühle jetzt zu und beeinflusse sie bewusst - durch Techniken, die ich mittlerweile erlernt habe. Am Abend vor dem Termin versetze ich mich in einen
meditativen Zustand und stelle mir bildlich vor, wie der Arzt zu mir kommt und sagt:
»Alles okay.«
Ich bin mir natürlich bewusst, dass ich damit das Ergebnis der Untersuchung nicht beeinflussen kann, aber ich bringe mich selbst in eine Verfassung, die hoffentlich verhindert, dass ich unversehens wieder in die Haltung des Opfers schlüpfe. Was geschieht, das geschieht!
Wenn ich dann alles hinter mir habe, schicke ich als Erstes ein Dankgebet in den Himmel. Anschließend gehe ich in ein Café in der City, rauche eine Erleichterungszigarette und bestelle mir ein Stück fette Sahnetorte. Willkommen zurück im Leben!
Psychologische Reha für Krebspatienten: Der Gestalttherapeut drückt mir einen mit Sand gefüllten Ball in die Hand. Ich soll ihn kneten und mir dabei möglichst lebhaft vorstellen, wie es mir mit der Krankheit ergangen ist. Meine ganze Wut, all meine Ängste soll ich jetzt nacherleben und ihm schildern. Die Ärzte haben mir dringend zu dieser Therapie geraten, um meine Krankheit und den Verlust meines Kindes zu verarbeiten.
Gehorsam beknete ich also den Ball und mühe mich damit ab, den Anweisungen des Therapeuten folgend, die verlangten Gefühle zu entwickeln. Aber es will mir nicht gelingen. Keine Trauer, keine Angst. Keine Wut - oder doch? Langsam beginne ich, auf den Therapeuten sauer zu werden.
So eine Idiotie!
Ich beschimpfe ihn in Gedanken, immer noch brav weiterknetend.
Wie soll mich so etwas aufbauen! Wenn der wüsste, wie viele traumatische Erlebnisse in mir festsitzen! Um das alles so aufzuarbeiten, wie der sich das vorstellt, müsste ich die nächsten zehn Jahre auf seiner Couch verbringen.
Nach 30 Minuten wütenden Ballknetens und innerer Schimpftiraden ist mir eines klar: Diese Form der Aufarbeitung passt mir nicht in den Kram! Ich will all diese schrecklichen Gefühle kein zweites Mal erleben. Waren sie nicht beim ersten Mal schon schlimm genug? Was ich jetzt fühle, ist etwas ganz anderes: ein Brodeln in meinen Eingeweiden - kochende Wut im Bauch. Immer noch beschimpfe ich im Geiste den Therapeuten.
Was willst du mir denn beibringen? Du meinst wohl, du wüsstest ganz genau Bescheid! Ich brauche doch niemanden, der mich wieder runterzieht! Ich brauche Power! Motivation! Ich will leben!
In der vierten Stunde schleudere ich den Sandball an die Wand und brülle laut heraus:
»Wissen Sie was, Sie siebengescheiter Herr Psychologe? Ich nehme mein Leben lieber selbst in die Hand.«
Damit verlasse ich die Praxis und einen sprachlosen Gestalttherapeuten. Da hat er mal sein eigenes Trauma! Soll er sich doch selbst therapieren! Ich habe jetzt etwas zu erledigen …
Hatte nicht Hatice es bei unserem letzten Telefonat gesagt?
»Höchste Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst!«
Na, dann fangen wir doch gleich mal an. Plötzlich ist mein orientalisches Temperament wieder erwacht. Geladen laufe ich durch die Hannoveraner City nach Hause. Was als Erstes? Ganz klar! Ich werde mich von meinem
Mann trennen. Am besten, ich bringe es gleich hinter mich. Ich bin gerade so schön wütend!
Kaum zu Hause durch die Tür, platzt es auch schon aus mir heraus.
»Ich habe mit der Therapie aufgehört, Bekir. Mir ist alles zu viel, ich werde das nicht
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