Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
sagt, Krebs könne als Folge eines unverarbeiteten Traumas entstehen. Auch erklärten mir die Ärzte, dass ein
Nierentumor zwei Jahre benötigt, um so groß zu werden wie bei mir. Vor ziemlich genau zwei Jahren starb mein Sohn Cem …
Als ich am Tag nach der siebenstündigen OP auf der Intensivstation aufwache und mühsam rekonstruiere, wo ich bin und was mit mir geschehen ist, steht der Professor an meinem Bett. Er möchte mir die gute Nachricht persönlich überbringen.
»Sie haben Glück gehabt, der Tumor hat nicht gestreut. Allerdings mussten wir leider die befallene Niere entfernen.«
Mir ist noch übel von der Narkose. Ich verstehe nicht ganz.
»Was hat das zu bedeuten?«
Der Professor nimmt meine Hand.
»Ihre anderen Organe sind gesund.«
Aber ich verspüre kein Glück. Nicht einmal Erleichterung. Im Gegenteil. Langsam dämmert mir, dass mein Leben auf des Messers Schneide gestanden hat. Der Schock der plötzlichen Diagnose und die Notoperation hatten mein Bewusstsein so vernebelt, dass ich erst jetzt voll und ganz realisiere: Ich hätte sterben können!
Ja, sterben - wäre das nicht auch eine Lösung? Um meine Familie zu bestrafen, ganz bestimmt. Aus einem Trotzgefühl, mit dem ein Kind sich absichtlich in den Finger schneidet, um seine Mutter zum Weinen zu bringen, aus einem solchen Gefühl heraus sollte ich vielleicht ganz einfach sterben! Was würden sie wohl denken, wenn sie es erführen?
Schaut her, ich, eure Ayşe, bin tot! Interessiert sich jetzt endlich mal jemand für mich? Mutter! Vater! Ich war doch
euer Kind, egal, was ich angestellt habe. Ihr habt mich in die Welt gesetzt. Leidet ihr denn auch ein bisschen, jetzt, da ich nicht mehr bei euch bin? Tut es euch wenigstens ein bisschen leid, was ihr mir angetan habt? Bereut ihr es, bedauert ihr es? Würdet ihr es gern ungeschehen machen?
Nur Hatice hielt mir die Hand in diesen Tagen. Sie war - abgesehen von einer Stippvisite Bekirs - der einzige Mensch, der mich während des vierwöchigen Krankenhausaufenthalts besuchte. Meine Schwester tat alles, was sie nur konnte, um mich wieder aufzubauen.
»Du wirst dich bestimmt bald erholen. Wenn du in die Reha kommst, geht es nur noch bergauf.«
Aber ich machte es ihr schwer. Ich wollte nicht, dass es mir besser ging.
»Ich bin so am Ende, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wieder ein normales Leben zu führen.«
Frankfurt, irgendwann im Jahr 2004
»Warum hast du damals nicht gebetet? So, wie wir es immer zusammen machen! Und warum hast du deine Engel nicht um Hilfe gebeten?«
Meine Freundin kann sich nicht vorstellen, dass ich damals im tiefsten Tal meines Lebens war. Unfähig, mir selbst zu helfen.
»Mein Gott, Sibel! Ich war gerade mal 22 Jahre alt! Und ich hatte den Kontakt zu allem verloren, was als Kind meine Gedanken in diese Richtung gelenkt hatte.«
Warum nur habe ich das Gefühl, dass ich mich jetzt verteidigen muss?
»Außerdem weißt du so gut wie ich, dass ein Mensch, der ganz unten ist, einen extrem eingeschränkten Blickwinkel hat. Er sieht nur sein Elend und hat nicht einmal die Kraft, sich so etwas wie Heilung auch nur vorzustellen.«
Sibel rückt auf der Couch ein Stückchen näher zu mir heran und legt mir den Arm um die Schulter.
»Stimmt, die Kraft hatte ich auch nicht, nach meiner Diagnose. Da war bloß nackte Angst, weißt du noch? Wenn du mir nicht geholfen hättest …«
Ich lege den Finger an den Mund.
»Psst! Das war nicht ich. Wenn ich dir Kraft geben konnte, dann nur, weil ich ein Instrument war. Und was die Ayşe von damals angeht - die hatte sich so sehr mit ihrem Elend identifiziert, dass sie nur immer noch mehr Elend anzog. Statt nach Hilfe zu suchen, habe ich mich darauf versteift, anderen die Schuld an meinem Unglück zu geben. Ich habe nicht verstanden, was mit mir passiert ist. Irgendwie war ich in all den Jahren nicht in meiner Mitte - verstehst du?«
Kaum ist das gesagt, spüre ich wieder die innere Leere und die Machtlosigkeit der damaligen Zeit. Ich muss mich auf die Couch legen, die Hände auf dem Bauch, um mich zu entspannen, so sehr nimmt mich die Erinnerung mit.
»Es muss damit zusammenhängen, dass ich mein Leben in andere Hände gegeben hatte. Ich war total fremdbestimmt.«
Sibel schaut mich mitfühlend an.
»Und die Gebete, die du von Babanne gelernt hast? Die hättest du doch wenigstens sprechen können. Heute machst du das doch auch …«
»Tja - heute bete ich wieder. Aber damals hatte ich es wirklich
Weitere Kostenlose Bücher