Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer
hoffen.
Thomas von Monmouth kam erst nach Willelms Tod nach Norwich und war ab 1150 damit betraut, den Heiligenkult in Gang zu bringen. Thomas muss ein ungewöhnlich gelehrter Mann gewesen sein, denn er schrieb ein elegantes Latein und argumentierte gekonnt. Aufgrund der dünnen Beweislage blieb ihm nichts anderes übrig, als Gerüchte, Behauptungen, Träume und Vermutungen zu einer abenteuerlichen Verschwörungstheorie zusammenzurühren. In seiner Chronik finden wir zum ersten Mal die schriftliche Niederlegung der unseligen und frei erfundenen Behauptung, dass Juden in einem religiösen Ritual Christen martern und ermorden. Aus Rache für ihre Verbannung und zum Schimpf des Christentums, so behauptete er, opferten die Juden jedes Jahr einen Christen. Thomas will das von dem Mönch Theobald von Canterbury erfahren haben, einem zum Christentum konvertierten Juden. Jedes Jahr, so soll Theobald ihm berichtet haben, losten die Juden in Narbonne aus, welche Gemeinde ein Blutopfer zu bringen habe. Im Jahre 1144 sei die Reihe an Norwich gewesen. Dem Kult um Willelm half die bemüht klingende Beweisführung nur für kurze Zeit: In den fünfziger und sechziger Jahren des zwölften Jahrhunderts pilgerten vergleichsweise viele Menschen in der Hoffnung auf Hilfe oder auf Wunder zu seinem Grab. Der Bischof machte ihn zum Schutzheiligen des Bistums. Dann aber ließ die Heiligenverehrung nach und war wenige Jahrzehnte später fast erloschen. Hinzu kam, dass alle Päpste dieser Zeit die Ritualmord-Beschuldigungen gegen die Juden ausdrücklich zurückwiesen. In Willelms Fall verweigerte der Papst die Heiligsprechung. Trotzdem hat Thomas von Monmouth mit seiner Chronik eine der fürchterlichsten und langlebigsten falschen Beschuldigungen in die Welt gesetzt, die
in Europa gegen die Juden erhoben wurden: Die Legende vom Ritualmord. Der Beschuldigung in Norwich folgten ähnliche Fälle in Pontoise ( 1163 ), in Gloucester ( 1168 ) und im französischen Blois ( 1171 ), wo Graf Theobald von Blois 32 Juden wegen des Ritualmordvorwurfs verbrennen ließ. Er hatte für einen Freispruch unverschämt viel Geld gefordert, das Angebot der jüdischen Gemeinde war ihm zu niedrig. Ende des zwölften Jahrhunderts kam es in mehreren englischen Städten, darunter Lynn, Lincoln, Stanford, Norwich, Colchester und York, zu Judenmassakern. Auch wenn sie nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ritualmordvorwurf standen, so dürfte diese Beschuldigung doch den Weg dazu geebnet haben.
Auch in Deutschland führten Ritualmordbeschuldigungen zu Massakern an der jüdischen Bevölkerung. Am ersten Weihnachtstag 1235 starben bei Fulda die fünf Söhne eines Müllers, als ihre Mühle abbrannte. Zwei Juden sollen unter Folter gestanden haben, die Jungen für ein Blutritual umgebracht zu haben. Daraufhin massakrierten »Kreuznehmer« am 28 .Dezember die gesamte jüdische Gemeinde der Stadt Fulda. 32 Menschen, vorwiegend Frauen und Kinder, fielen dieser Raserei zum Opfer. Als Kreuznehmer bezeichneten die Schriften dieser Zeit Kreuzfahrer auf dem Weg ins heilige Land, aber auch solche Männer, die sich bereit gefunden hatten, einen Kreuzzug zu unterstützen. Es könnte sich also um durchreisende Kreuzfahrer oder um Einwohner der Stadt gehandelt haben, die einen Kreuzzug finanzieren wollten. Es war nicht das einzige Mal, dass Kreuzfahrer schon am Beginn ihres Wegs eine blutige Spur zogen.
Auch in den folgenden Jahrhunderten führte der Ritualmordvorwurf in ganz Europa immer wieder zu Juden-Pogromen. Noch im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wurden Juden des Ritualmordes angeklagt und erst nach Jahren freigesprochen: 1911 wurde der Jude Mendel Beilis des Ritualmordes an einem Jungen
namens Andriuscha Justschinsky angeklagt und zwei Jahre lang unter unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis festgehalten, bevor die – ausschließlich christlichen – Geschworenen ihn endlich freisprachen. In Kielce in Polen starben 1946 bei einem Pogrom 42 Juden, als dort das Gerücht entstand, Juden hätten ein verschwundenes Kind ermordet. Nationalsozialistische Hetzblätter nahmen den vielfach widerlegten Ritualmordvorwurf in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder auf, um den Boden für die Ausrottung der Juden in Europa zu bereiten. Die Hetzschriften geistern noch heute durchs Internet.
Der ehemalige syrische Verteidigungsminister Mustafa Tlas veröffentlichte 1983 ein Buch, das den Ritualmordvorwurf gegen die Juden noch einmal bekräftigte.
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