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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffi von Wolff
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gesamte Gestalt! Henning sagte »Äh!«, das Wesen antwortete nicht, sondern stürzte sich mit einem Enthusiasmus auf ihn, der an Franka Potente in »Lola rennt« erinnerte.
    »Mei Schwester had gesacht, du dädst es mit mir mache!«, kreischte die Gestalt. Naomi-Dörte lehnte lasziv lächelnd an der Wohnzimmertür. »Mach’s mir. Bidde!« Henning versuchte wohl, die Situation zu klären, aber das Wesen war schon dabei, ihm alle weiteren Kleidungsstücke vom Leib zu reißen.
    »Wenn du mit ihr schläfst, würdest du mir einen riesigen Gefallen tun! Sie kriegt nie einen Mann ab, und weil sie heute Geburtstag hat, habe ich ihr einen versprochen!«, sülzte es von der Türschwelle her. »Und ich würde mich sehr erkenntlich zeigen dafür!«
    Um es kurz zu machen: Henning weigerte sich, mit dem Alien zu schlafen, das Alien und Naomi-Dörte waren darüber gar nicht entzückt und gingen wie die Hyänen auf ihn los. Naomi-Dörte schrie: »Du wirst schon sehen, was du davon hast!«, und gemeinsam warfen sie sich auf Henning, zerrissen seine Kleidungsstücke und metzelten ihn nicht nur verbal nieder. Er versuchte sich zu wehren, aber offensichtlich hatten beide den schwarzen Gurt in Judo und warfen sich Henning in der Wohnung zu wie einen Tischtennisball. Irgendwann hatten sie dann genug und schubsten Henning aus der Wohnung, jagten ihn bis auf die Straße und brüllten: »Du Versager!!!«
    Da stand Henning nun nackt in Friedehügel – das ist der Ort neben Watzelborn – auf der Kaiserstraße, ohne Geld, ohne alles und wusste nicht, wohin. Zu allem Unglück wurde es langsam schon hell. Also versuchte Henning, erst einmal bei einem vorbeikommenden Obdachlosen Kleidung zu bekommen. Der gab ihm auch netterweise den Ärmel seines aus den fünfziger Jahren stammenden Trenchcoats, den Henning sich hektisch tarzangleich um die Lenden wickelte. Dann überlegte der Obdachlose es sich wieder anders und entriss Henning den Ärmel, während er laut »Hoch auf dem gelben Wagen« sang. In diesem Moment kam eine Nonne auf einem Fahrrad angefahren. Sie hielt an und fragte selig lächelnd, ob sie helfen könne. O ja, das konnte sie. Gerne war sie bereit, ihn auf dem Gepäckträger mitzunehmen. Henning nahm sich daraufhin fest vor, wieder in die Kirche einzutreten und tausend Euro an »Brot für die Welt« zu spenden. Oder an die » SOS Kinderdörfer«. So fuhren also Henning und die Nonne, die sich als Schwester Euresia vorstellte, in der Morgendämmerung Richtung Watzelborn. Und der Rest der Geschichte ist ja bekannt.

5

    Also, dass Richard nicht zu Hause ist! Er hat doch frei. Erneut stampfen wir mit den Füßen auf. Ich habe keine Lust, den ganzen Samstag hier oben nackt zu verbringen. Und Henning auch nicht. In unserer Verzweiflung spielen wir »Ich sehe was, was du nicht siehst«, hören aber nach kurzer Zeit wieder auf, weil wir uns darüber streiten, ob die Farbe eines kaputten Plastikautos als Orange oder Apricot zu bezeichnen ist. Irgendwann komme ich auf die geniale Idee, in herumstehenden Kartons und Kisten nach Kleidungsstücken zu suchen. Henning ist begeistert.
    Wir finden sogar einen alten Koffer, der mit einer Million Klebeschildchen verziert ist.
    Sofort werde ich nostalgisch. Der ehemalige Besitzer muss die ganze Welt viermal bereist haben und sechsmal in allen Hotels derselben gewohnt haben. Ich finde das Carlton in Cannes, das Ritz in Paris und viele mehr. Bestimmt birgt dieser Koffer ein tiefes Geheimnis. Bestimmt hat er einen doppelten Boden, in dem verzweifelte Briefe und Geldscheine liegen, die von Gefallenen aus dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen. Sofort denke ich an »Fackeln im Sturm«, diesen herzzerreißenden Zwölfteiler aus den Achtzigern, in dem es so schöne Namen für Plantagen gab. Wie hieß die von Orry Main? »Twelve Oaks«? Nein. Das war die von Ashley aus »Vom Winde verweht«. Oder? Das macht mich jetzt ganz verrückt, dass ich nicht auf den Namen von Orrys Plantage komme. Henning versucht unterdessen, den Koffer zu öffnen. Es geht leicht, denn er ist schon offen, was mich irgendwie enttäuscht. Und es liegen tatsächlich Kleidungsstücke darin. Aber keine Seidenstoffe aus dem 19 . Jahrhundert, sondern vergilbte Frottéwaschlappen und -handtücher. Leider kein vergilbter Bademantel, den einer von uns anziehen könnte. O nein, ich glaube, ich hätte den Bademantel auch nicht angezogen, wenn er in diesem Koffer gelegen hätte, muss ich angewidert feststellen, als ich zwischen dem Frottékram

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