Fremd küssen. Roman
Hickelkästchen auf dem Gehweg. Das Wochenende hat gerade erst angefangen und ein langer erholsamer Tag liegt vor einem. Der Sonntag ist ab mittags eher schrecklich. Man denkt schon wieder an den Montag und daran, dass man fünf Tage arbeiten muss.
Es sei denn, man ist arbeitslos. Dann ist jeder Tag gleich. Man vegetiert auf Sofas vor sich hin und allein der Gang zum Kühlschrank ist einem bestimmt zu viel. In einer Zeitschrift habe ich mal gelesen, dass 30 % der Menschen, die länger als vier Monate arbeitslos sind, nicht mehr zur Toilette gehen, sondern lieber unter sich machen, denn es ist ja sowieso alles egal. Und an den Geruch gewöhnt man sich auch irgendwann, sagten die Befragten in dem Artikel. Danke, dass ich einen Job habe.
Da ist das Happy Sun! Wie lange ist es her, dass ich auf der Sonnenbank war? Bestimmt ein halbes Jahr. Das wird sich ändern. Ab jetzt gehe ich dreimal in der Woche schwimmen, zweimal auf die Sonnenbank und regelmäßig werde ich mir Maniküre und Pediküre und Kosmetikprogramm gönnen! Obwohl ich den Ausdruck »gönnen« hasse. Er erinnert mich an meine fette Phase und an Inge.
Mit Anfang zwanzig wog ich 99 kg (Frustfraß, was sonst) und bin mit meiner damaligen besten Freundin Inge, die todunglücklich darüber war, dass ihr Gewicht bei einer Größe von 1 Meter 78 zwischen 45 und 48 kg pendelte und nichts, aber auch gar nichts runterging, zu den Weight Watchers gegangen. Ich konnte damals meine Klamotten nur in der Hausfrauenabteilung von C&A kaufen, da gab es schöne weite Kittelschürzen mit lustigen Aufdrucken, oder sie waren einfach nur kariert. Die haben mir immer gepasst. Schön waren auch Plisseeröcke, die alle Namen hatten. Ich frage mich heute noch, wie man Kleidungsstücken Namen geben kann. Auf den letzten Seiten von so typischen Omazeitschriften wie »Frau im Spiegel« oder »Neue Post« werden immer Röcke oder Blusen angeboten, die Frauennamen haben. Dralle Mittfünfzigerinnen tragen dann Rock »Feodora« – streckt durch die Längsstreifen und macht optisch schmaler, mit Gummizug im Bündchen, für die stärkere Frau. Dazu passend die Bluse »Irina«, ein flottes Teil, vorne mit Röschen bestickt und mit Puffärmelchen, chic! Da kommen die fetten Ärmchen besser zur Geltung. Oder wir nehmen die Kombination »Jeannette«, zu 85 % aus luftdurchlässigem Polyacryl, damit wir uns gut fühlen, wenn wir für die Familie bei 40 Grad durch die Fußgängerzone latschen und nach Sonderangebötchen Ausschau halten. Immer wieder gern genommen werden auch Schlüpfer mit aufgedruckten Wochentagen und grinsenden Katzenbabys rechts an der Seite.
Jedenfalls war ich mit Anfang zwanzig so fett, dass jeder dachte, ich wäre permanent scheinschwanger. Und Inge zwang mich, in die Gruppe der Abnehmwilligen mitzukommen. Sie behauptete, wenn ich so weitermachen würde, müsste ich mich irgendwann im Postamt auf der
im Boden eingelassenen Paketwaage wiegen lassen, weil die regulären Personenwaagen normalerweise nur bis 120 Kilo gehen. Das hat mich tief getroffen und ich habe Inge sofort versprochen, am Montag mitzukommen.
Um acht begann der Kurs. Da saßen ungefähr 12 Frauen in einem Raum, eine fetter als die andere. Vor den Frauen dozierte eine »Ehemalige«. Denn bei den Weight Watchers ist es so, dass diese Kurse nur Frauen leiten, die selber mal fett waren und dank Weight Watchers um etliche Kilo leichter geworden sind. Diese Frauen zeigen immer wieder Fotos von sich aus ihrer fetten Zeit, was mit »Aaahs« und »Ooohs« von den Noch-Fetten honoriert wird. Es wird nur in der Gruppe gesprochen. Da wir neu waren, wurden wir als Erste aufgerufen. Inge erzählte, sie würde sich so furchtbar dick fühlen, aber sie könnte machen, was sie wolle, sie nähme einfach nicht mehr ab. Die »Ich war mal fett jetzt bin ich schlank und leite einen Weight-Watchers-Kurs«-Frau bedauerte Inge und sagte, das würden wir schon alle gemeinsam in den Griff kriegen. »Oder?«, schrie sie in die Runde. Die fetten Hausfrauen schrien motiviert im Chor: »Ja!!! Das kriegen wir hin!« und trampelten mit den Füßen. Ich hatte Angst, dass der Boden der Belastung nicht standhalten könnte. Inge lächelte beruhigt und setzte sich wieder hin. Dann war ich an der Reihe. Fette Schweinsaugen begutachteten mich. Ich erriet die Gedanken: ›Die ist fetter als ich! Das muss so bleiben!‹ Oder: ›Die ist fast so fett wie ich! Ich frage sie nach der Sitzung, ob sie mit mir Torte essen geht.‹ Oder einfach:
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