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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffi von Wolff
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eine mumifizierte Ratte entdecke. Ihr vierzig Zentimeter langer behaarter Schwanz ist gut erhalten und ragt uns freundlich entgegen.
    Angeekelt schließt Henning den Koffer wieder. Es muss inzwischen mindestens 11 Uhr sein. Verstohlen betrachte ich Henning. Eines muss man ihm lassen, er hat eine gute Figur, und behaart ist er auch. Und schlecht gebaut untenrum ist er auch nicht. Vielleicht sollten wir ein bisschen poppen, um die Zeit hier oben besser rumzukriegen. Aber dazu fehlen mir einfach die Nerven jetzt. Und Henning hat mit Sicherheit für die nächste Zukunft die Nase voll von vermeintlich gutem Sex. Was ich nachvollziehen kann. Also setze ich mich wieder auf eine der Kisten, und Henning und ich reden darüber, welche große Sommeraktion wir im Sender machen können. Vielleicht mit dem Übertragungswagen drei Tage nach Nordhessen und da für die Zielgruppe ein Riesenprogramm mit DJs und allem Pipapo an irgendeinem Badesee mit Zelten und Schlagmichtot. Oder wir fahren mit einem Partyzug quer durch Hessen und lassen verschiedene DJs auflegen, und im Zug geht die Hölle ab. Das wäre doch geil. Zur Abwechslung stampfen wir mal wieder auf den Boden. Da! Es klopft zurück. Sofort legen wir uns beide auf den Boden und schreien: »Hallo!« Irgendjemand schreit zurück. Das MUSS Richard sein. Jemand kommt die Treppe hoch. Wenn es nicht Richard ist, sterbe ich. Zum Glück ist es Richard.
     
    Wenn Richard irritiert ist oder eine Situation ihn überfordert, merkt man es ihm nicht an. Richard kennt keine Gefühlsausbrüche. Als er uns nackt auf dem Dachboden stehen sieht, sagt er nur »Guten Morgen. Wollt ihr euch nicht anziehen?« und geht, unsere geöffneten Münder ignorierend, wieder in seine Wohnung, um uns Jogginganzüge zu holen. Eine Minute später sitzen wir in seiner Wohnung im Dunkeln (die Sonne, die Sonne) und beratschlagen, wie wir ohne Schlüssel in meine Wohnung kommen. Ich will einen Schlüsseldienst anrufen, aber Richard rechnet mir vor, dass mich das mit Wochenendzulage und Anfahrtszeit um die zweihundert Euro kosten würde. Es ist mir egal, aber Richard hat schon die optimale Lösung parat. Er fragt mich, ob mein Badezimmerfenster offen steht, und als ich nicke, beginnt er wortlos, Küchenhandtücher aneinander zu knoten. Ich sehe ihm zu und komme mir vor wie in »Alcatraz«. Henning sagt gar nichts. »Mont Royal!«, rufe ich plötzlich. Beide glotzen mich an. »So heißt die Plantage von Orry Main«, rechtfertige ich mich.
    Henning und Richard schauen sich an und dann auf den Boden. Richard ist mit dem Knoten fertig. Das sind ungefähr fünfzig Handtücher, die er aneinander gereiht hat. Will er sich tatsächlich vom vierten in den dritten Stock abseilen, um bei mir durchs Badezimmerfenster zu klettern? Er verlässt den Raum und kommt in einem Taucheranzug zurück. Eine Taucherbrille mit Schnorchel befindet sich auf seinem Gesicht. Will er sich bei mir in die Wanne legen? Ach so, nein, die Sonne. Ich vergaß! Richard geht in sein Badezimmer, befestigt die Handtücher an einem Heizungsrohr und überwindet sich tatsächlich, die Klappläden zu öffnen. Es scheint ihm nicht recht zu sein, aber er tut es. Plötzlich bekomme ich Angst. »Nicht, Richard!«, sage ich. »Wenn die Handtücher reißen, bist du tot!«
    Er starrt mich aus seinen roten Augen durch die Taucherbrille blicklos an und sagt: »Grrrmpfhblgrrrs. Nrrrrdjhiiigl.« Man kann wegen dem Schnorchel nichts verstehen. Schon klettert er aufs Fensterbrett. Das geht doch nicht! Warum verhindert Henning das denn nicht? Wo ist der überhaupt? Ich laufe in die Küche. Dort sitzt Henning auf einem Stuhl und löst ein Kreuzworträtsel. Im Dunklen. »Sag mal, spinnst du?«, echauffiere ich mich. »Richard stürzt vielleicht in diesem Moment in den sicheren Tod und du kritzelst in einem Rätselheftchen rum!«
    Henning schaut mich müde an. »Ich habe keine Kraft mehr, irgendwas zu verhindern«, jammert er. »Ich bin todmüde.«
    Ich zerre ihn mit ins Badezimmer, in dem Richard leider nicht mehr steht. An den gespannten Geschirrtüchern, die sich hin und her bewegen, erkennen wir, dass Richard offensichtlich die geplante Aktion schon in die Tat umsetzt. Durch das geöffnete Fenster hören wir ninjakampfartige Schlachtrufe: »Haja, uuuiih! Assam. Begidabo!«
    Ich schaue nach unten. Richard hangelt sich gerade zwei Meter unter mir dem Zielobjekt entgegen. In meinem Hals sitzt ein Kloß. Wie furchtbar, wenn ihm jetzt etwas passiert. Dann bin ich schuld. Ich

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