Fremd küssen. Roman
›Bei der ist Hopfen und Malz verloren!‹ Eingeschüchtert erzählte ich, dass mir immer langweilig wäre und ich immer Unglück mit Männern hätte, und die würden immer Schluss mit mir machen und dann würde ich mich mit Chips und Schokolade voll stopfen. Die Gruppenleiterin machte sich kopfschüttelnd Notizen und befahl Inge und mir, nach vorne zu kommen. Wir gehorchten. Da stand eine Waage. Inge musste sich zuerst auf die Waage stellen, die Leiterin notierte sich schweigend Inges Gewicht auf einer Tabelle. Dann war ich an der Reihe. Durch die Aufregung musste ich innerhalb von fünf Minuten zugenommen haben, denn die Waage zeigte 101 , 5 kg an. Gott sei Dank wurde das Gewicht ja nicht laut gesagt. »Hunderteins Komma fünf Kilogramm!!!«, brüllte Frau Stark in die Gruppe. Ich starb. »Was sagt ihr dazu?«, schrie Frau Stark. »Zu viel. Zu viel!«, echoten die Schweinsäuglein. Frau Stark entließ uns auf unsere Plätze. Als ich an ein paar Damen vorbeiwollte, rückten diese mit ihren Stühlen einen Meter weit zurück, wahrscheinlich weil sie glaubten, die Mutter von Benjamin Blümchen wollte vorbeitrampeln.
In der Gruppenstunde wurden wir darüber belehrt, dass wir unsere Essgewohnheiten umstellen müssten und Sport treiben müssten und überhaupt müsste alles anders werden. In dem Diätplan, den wir ausgehändigt bekamen, stand auf die Kalorie genau, was wir zu uns nehmen durften. Und das Schöne: Man durfte sich eine ganze Menge »gönnen«. Man durfte sich einmal in der Woche einen halben Esslöffel Linsensuppe gönnen oder vierzehntägig 100 Milliliter Weinschorle. Dann gab es tägliche Extras, die man sich gönnen durfte. Das hieß, dass man z.B. immer zum Frühstück an einem Plunderstückchen riechen konnte oder über den Tag verteilt entweder eine Haferflocke oder eine Backpflaume zu sich nehmen durfte. Und das musste man dann genießen, weil man es sich ja »gegönnt« hatte. Und Sport, jede Menge Sport sollte man sich auch gönnen. Und irgendwann, so versicherte uns Frau Stark, würden wir Essen an sich nicht mehr als so wichtig empfinden und ohne Sport könnten wir irgendwann alle nicht mehr leben. Ich war wohl die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt. Nach drei Wochen habe ich das Handtuch geworfen. Beim öffentlichen wöchentlichen Wiegen habe ich zwar in der ersten Woche zwei Kilo abgenommen, gönnte mir aber daraufhin eine Tafel Ritter Sport Vollnuss und gleich danach eine Tüte Chips, weil ich ja zwei Kilo abgenommen hatte, die Woche darauf hatte ich die zwei Kilo dann allerdings schon wieder auf den Hüften. Auch Frau Starks erhobener Zeigefinger und der Wink, dass doch eigentlich der erste Bissen schmeckt wie der letzte, hielten mich nicht davon ab, mir immer mehr zu gönnen, als es dem Abnehmen dienlich war. Inge hatte keine Probleme. Sie nahm in der ersten Woche drei Kilo, in der zweiten noch mal vier und in der dritten gar nichts mehr ab, weil Knochen sich, glaube ich, vom Gewicht her nicht reduzieren lassen. Irgendwann erlitt sie in der Gruppe einen Kreislaufkollaps, weil sie sich so gar nichts gönnte. Die Gruppe war böse auf mich, weil ich Inge höchstwahrscheinlich als so schlechtes Vorbild gedient habe, dass sie meinte, für zwei abnehmen zu müssen. Ich bin nicht mehr zu den Weight Watchers gegangen und habe auch den Kontakt zu Inge abgebrochen.
6
Pünktlich um kurz vor 14 Uhr stehe ich vor dem Happy-Sun-Sonnenstudio. Ich hatte schon Panik, dass das so eine heruntergekommene Kaschemme ist, aber ich scheine Glück zu haben. Es gibt sogar ein Schaufenster mit Fotos von diversen Füßen, unter denen mit Edding-Stift immer links »vorher« und rechts »nachher« steht. Schaut man sich die Vorher-Füße an, bekommt man einen Riesenschreck: Die Hühneraugen an den Zehen scheinen zu leben, und die Hornhaut an den Fersen wirkt so dick wie eine Gefängnismauer. Schwenkt der Blick dann zu den Nachher-Bildern, scheint ein Wunder vollbracht worden zu sein: filigrane Füßchen ohne lästiges Beiwerk, die Nägel pastell lackiert. Es hängt auch eine Preisliste im Schaufenster und ich erfahre, dass eine Komplettbehandlung mit Farbberatung und Wimpernfärben » NUR 40 €« kostet. Überhaupt scheint das Wort » NUR « beim Happy-Sun-Sonnenstudio eine große Bedeutung zu haben. Teilkörperbräunung am Barzahlertag » NUR 6 € für 16 Minuten!« Oder » NUR heute Cellulitis-Wärmebehandlung«, die Dreiviertelstunde » NUR 55 €!!!« Das NUR ist auch immer dreimal mit rotem Edding
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